Treten wir aus dem Schatten der nuklearen Bedrohung
„Zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Geschichte wurden einige wenige kostbare Stimmen laut, die nach Gerechtigkeit riefen. Diese Stimmen müssen sich heute mehr denn je über das Getöse von Gewalt und Hass erheben.“
So die denkwürdigen Worte von Dr. Joseph Rotblat, der viele Jahre lang die Pugwash-Konferenzen leitete – einer weltweite Organisation, die sich für Frieden und die Abschaffung von Atomwaffen einsetzt. Rotblat starb im August 2005, in jenem Monat, als sich der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki zum sechzigsten Mal jährte. Rotblat wurde 96 Jahre alt. In der letzten Phase seines Lebens äußerte er die Vorahnung drohenden Unheils, weil immer noch keine Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung zu verzeichnen sind und die Bedrohung durch die unkontrollierte Verbreitung von Atomwaffen zunimmt.
Die beispiellose Entwicklung militärischer Technologie hat Kriegsszenarien komplett von der menschlichen Wirklichkeit und Gefühlswelt losgelöst. Von einem Augenblick auf den anderen können unersetzliche Menschenleben vernichtet und geliebte Heimatorte dem Erdboden gleichgemacht werden. Man überhört oder ignoriert die angstvollen Schreie der Opfer und ihrer Familien. Innerhalb dieses riesigen Systems der Gewalt – an dessen Spitze Atomwaffen stehen – sind Menschen nicht länger eine Verkörperung des Lebens, sondern werden auf den Status von Dingen reduziert.
Angesichts dieser großen Herausforderungen verbreiten sich Ohnmacht und Verzweiflung in der internationalen Gemeinschaft. Immer mehr Menschen sind bereit, die Möglichkeit der Abschaffung von Atomwaffen als reinen Wunschtraum abzutun.
Frieden ist ein Wettrennen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Machtlosigkeit und Handlungsbereitschaft. In dem Maße, in dem sich Ohnmacht im Bewusstsein verbreitet, verstärkt sich die Tendenz zur Gewaltanwendung. Machtlosigkeit gebiert Gewalt. Aber wir Menschen selbst haben diese höllischen Instrumente der Zerstörung erfunden! Es kann daher nicht über unsere menschliche Weisheit hinausgehen, sie wieder abzuschaffen.
Die Pugwash-Konferenzen, die Rotblats Handlungsgrundlage waren, wurden erstmals im Jahr 1957 abgehalten. In jenem Jahr beschleunigte sich das nukleare Wettrüsten rapide und umfasste bald den ganzen Planeten.
Am 8. September desselben Jahres rief mein Mentor, Josei Toda, zur Abschaffung von Atomwaffen auf. An diesem Tag, an dem der Himmel klar und schön war wie nach einem Gewitter, erklärte Toda vor 50.000 jungen Menschen in Yokohama: „Obwohl überall auf der Welt bereits Bewegungen entstanden sind, die ein Verbot von Kern- oder Atomwaffentests fordern, möchte ich noch weiter gehen und das Problem an der Wurzel packen. Ich möchte die Klauen des Bösen offenlegen und herausreißen, die in den Tiefen solcher Waffen verborgen liegen. (…) wir, die Bürgerinnen und Bürger dieser Welt, [haben] ein unantastbares Recht auf Leben. Jeder, der dieses Recht gefährdet, ist der personifizierte Teufel, ein Dämon, ein Monster..“
Toda wählte solche harschen Worte sehr bewusst. Er war entschlossen, die wahre Natur der Atomwaffen als das absolut Böse zu entlarven, das der Menschheit das kollektive Recht auf Leben abspricht. Todas leidenschaftlicher Aufruf basierte auf seinem philosophischen Verständnis der inneren Zusammenhänge des Lebens. Er warnte vor dem teuflischen Egoismus, der andere dem eigenen Willen unterwerfen will, und sah dies deutlich gespiegelt in dem Wunsch bestimmter Staaten, diese Massenvernichtungswaffen zu besitzen.
Man muss sich dringend von der Vorstellung verabschieden, dass Atomwaffen dazu dienen, Kriege zu verhindern und daher als „notwendiges Übel“ zu betrachten sind. Dieser Gedanke behindert ganz wesentlich den Weg zu ihrer Abschaffung.
Da Toda die Atomwaffen als Verkörperung des absolut Bösen erkannte, konnte er die Grenzen von Ideologie und nationalen Interessen überwinden und ließ sich nicht von den Argumenten der Machtpolitik verwirren. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist wieder viel die Rede von nuklearer Abschreckung und einem „begrenzten“ Atomkrieg.
Ich bin überzeugt, dass heute von Todas Aufruf, der in den tiefsten Dimensionen des Lebens verwurzelt ist, sogar noch stärkere Strahlkraft ausgeht.
Wenn wir Atomwaffen abschaffen wollen, bedarf es einer grundlegenden Wandlung des menschlichen Geistes. Seit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki vor über sechzig Jahren haben die Überlebenden ihre Verzweiflung in eine Verantwortung verwandelt.
Wieder und wieder riefen sie zu nuklearer Abrüstung auf. Als Menschen von heute teilen wir diese Verantwortung, sie ist unser Recht und unsere Pflicht. Wir müssen uns diese Bereitschaft zur inneren Wandlung zu eigen machen und sie zu einem Kampf gegen den Krieg an sich ausweiten.
Im Jahr 1982, als sich die Spannungen des Kalten Krieges zuspitzten, veranstaltete die Soka Gakkai International (SGI) eine Ausstellung zum Thema Atomwaffen: eine Bedrohung für unsere Welt im Hauptquartier der UNO in New York. Die Ausstellung fand in weiteren sechzehn Ländern statt, inklusive der Sowjetunion, Chinas und anderer Nuklearstaaten. Sie zog insgesamt 1,2 Millionen Besucher an. SGI-Mitglieder beteiligten sich auch aktiv an der weltweiten Kampagne Abolition 2000. Es war die Absicht dieser und anderer Initiativen, die Herzen der Menschen, die Frieden wünschen, wachzurütteln.
Um diese Form der „Graswurzel-Solidarität“ weiter zu vertiefen, möchte ich zu einer UN-Dekade der Aktivitäten der Weltbevölkerung für nukleare Abrüstung aufrufen. Ebenso schlage ich einen Weltgipfel zur Abschaffung von Atomwaffen vor. Solche Schritte würden eine wachsende internationale Übereinstimmung für Abrüstung widerspiegeln und fördern.
Es sind naturgegeben die jungen Menschen, die die Herausforderungen der Zukunft schultern müssen. Deshalb wäre es wertvoll, eine Versammlung junger Repräsentanten aus der ganzen Welt der UNO-Generalversammlung vorauszuschicken. So könnten die Staatsoberhäupter der Welt die Ansichten der nächsten Generation kennenlernen.
Es ist entscheidend für den langfristigen Aufbau des Friedens, dass wir jungen Menschen solche Gelegenheiten geben, als Weltbürger zu agieren.
Sich lautstark gegen Krieg und Atomwaffen zu äußern hat nichts mit Gefühlsduselei oder Selbstmitleid zu tun. Es ist Ausdruck höchster Vernunft und basiert auf einer glasklaren Einsicht in die Würde des Lebens.
Angesichts der entsetzlichen Tatsache, dass Atomwaffen sich immer mehr verbreiten, müssen wir die Kraft der Hoffnung aus den Tiefen jedes einzelnen Lebens hervorholen. Diese Kraft kann selbst eine noch so ausweglos erscheinende Realität verwandeln.
Um aus dem Schatten der nuklearen Bedrohung herauszutreten, brauchen wir eine Revolution im Bewusstsein unzähliger Individuen – eine Revolution, die zu der tiefen Überzeugung führt: „Ich kann etwas tun.“ Dann werden wir schließlich sehen, wie die Menschen der Welt sich versammeln und gemeinsam ihre Stimmen gegen diesen furchtbaren Wahnsinn der Zerstörung erheben.
Artikel aus einer Serie von Essays von Daisaku Ikeda, die von Mai 2006 bis April 2007 in der Japan Times erschienen sind