02.01.2024

Einen Humanismus der Hoffnung entwickeln Ein Gespräch mit Prof. Jim Garrison

Jim Garrison ist Professor für Bildungsphilosophie an der Virginia Tech in Blacksburg, Virginia, USA, dessen Arbeit sich auf philosophischen Pragmatismus konzentriert, hauptsächlich den des amerikanischen Pragmatikers John Dewey. Im folgenden Interview in der Ausgabe der Seikyo Shimbun, der Tageszeitung der Soka Gakkai, vom 14. November 2020, spricht Professor Garrison über die Bedeutung von Bildung für die Gestaltung der Gesellschaft und die Erziehung von Weltbürger:innen. Dabei kommt er auf die Theorie der Soka (Werte schaffenden) Erziehung des japanischen Pädagogen und Gründungspräsidenten der Soka Gakkai, Tsunesaburo Makiguchi, zu sprechen.

Im Jahr 2014 veröffentlichten Jim Garrison und Larry Hickman einen Dialog mit Daisaku Ikeda unter dem Titel Living as Learning: John Dewey in the 21st Century (Leben wie Lernen: John Dewey im 21. Jahrhundert). Hierin erörtern sie die Zukunft der humanistischen Bildung sowie den Wert von Deweys Beiträgen auf diesem Gebiet und diskutieren darüber, wie Deweys Ideen mit denen Makiguchis und dem Buddhismus in Einklang stehen.


Am 18. November 2020 jährte sich die Gründung der Soka Gakkai zum 90. Mal. Tsunesaburo Makiguchi, unser Gründungspräsident, hatte große Hochachtung vor John Dewey.

Das Jahr 1930 ähnelt der heutigen Zeit in vielerlei Hinsicht. Die beiden Zeitperioden bilden einen entfernten Spiegel; das heißt, der Blick auf die Ereignisse vor 90 Jahren ermöglicht es uns, besser über unsere Zeit zu reflektieren.

Die größte Gemeinsamkeit ist die Schwere der Krise. Wie Sie wissen, lag das Jahr 1930 zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Weltwirtschaftskrise begann, die Gesellschaft zu verwüsten. Extremer Nationalismus bildete damals die Wurzel von Kriegen. Ich bin wirklich besorgt, dass der Nationalismus in vielen Teilen der Welt wieder zunimmt. Und die Corona-Pandemie hat noch zusätzlich Verwirrung hervorgerufen.

Sowohl John Dewey, einer der frühen Begründer des amerikanischen Pragmatismus, als auch Tsunesaburo Makiguchi, Gründungspräsident der Soka Gakkai, erkannten, dass Bildung ein Schlüssel zur Veränderung einer turbulenten Gesellschaft ist. In Zeiten, in denen Erziehung überwiegend autoritär war, traten sie dafür ein, dass das Glück der Kinder das wichtigste Ziel in der Erziehung sei. Das bedeutet natürlich nicht, dass Kinder einfach machen können, was sie wollen. Dewey und Makiguchi teilten die Idee, dass die Grundlage für ein glückliches Leben eines jeden Kindes darin liegt, sein Potenzial erblühen zu lassen und seine kreativen Fähigkeiten zu fördern.

Und ich denke, ein Grund, warum sie an diese Idee glaubten, bestand darin, dass sie selbst Kindern immer so nahe waren und tief verstanden, was sie denken, woran sie interessiert sind und was sie brauchen. Ich glaube, derartige Gedanken und Methoden von Dewey und Makiguchi wurden zum Keim des pädagogischen Humanismus.

Können Sie mehr über ihren pädagogischen Humanismus sagen?

Lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass „Humanismus" im Westen und im Osten unterschiedliche Bedeutungen haben. Alle Formen von Humanismus betonen die dem Menschen innewohnende Würde, den Wert und die schöpferische Handlungsfähigkeit. Der westliche Humanismus betont allerdings in den meisten Fällen die absolute Autonomie isolierter Individuen, die von anderen Menschen und der natürlichen Welt getrennt sind. Dies basiert auf der Idee, dass Menschen „Gebieter“ seien, die in der Lage sind, die natürliche Welt zu beherrschen anstatt mit ihr zu kooperieren.

Diese Idee ist dem östlichen Humanismus jedoch fremd. Im östlichen Humanismus, wie er vom Buddhismus repräsentiert wird, werden alle Lebewesen gleichermaßen wertgeschätzt. Diese Philosophie, die die Würde des Lebens achtet, kann eine Grundlage für eine Erziehung sein, die das Potenzial von Kindern erblühen lässt und Wege für ihr Glück öffnet. Ich würde sagen, dass nicht nur Makiguchi, sondern auch Dewey einen östlichen Humanismus vertraten.

Das Schaffen von Werten war sowohl für Makiguchi als auch für Dewey ein Schlüsselkonzept.

Für sie war Bildung ein Prozess, um den Sinn des Lebens zu vertiefen, indem sie die kreativen Fähigkeiten von Kindern förderten. Und beide glaubten, dass dabei die Verbindung zu anderen entscheidend ist.

Als jemand, der die Bedeutung der Weltgeographie betonte, verstand und zeigte Makiguchi die Verbundenheit der Menschen. Dies wird durch seine renommierte Lehre veranschaulicht, nach der wir durch den Blick auf unsere Heimatstädte unsere Gedanken und Gefühle auf diejenigen ausdehnen können, die in anderen Teilen der Welt leben. Dewey legte ebenfalls großen Wert auf das Studium der Geographie und wir wissen, dass er in seinem Buch ein Kapitel über Geographie schrieb, das auch die Verbundenheit betonte.

Indem Sie Verbundenheit im Leben erkennen können und gleichzeitig mit Ihrem Leben dazu beitragen, sind Sie jemand, der Werte schafft und bereits eine Weltbürger:in. Dewey und Makiguchi strebten danach, gute Weltbürger:innen zu fördern.

Heute leben ihre Ideale in der Soka-Erziehung weiter. Gute Bildung wird einfach Teil des Lebens, und deshalb ist man sich dessen oft nicht bewusst. Doch wenn man mit Studierenden spricht, die eine solche Bildung genossen haben, ist offensichtlich, wie sehr sie ihre Entwicklung beeinflusst hat. Das ist meine ehrliche Meinung, wenn ich mit Studierenden der Soka-Universitäten in Japan in Amerika zu tun habe. Sie sind sich der hohen Qualität der Ausbildung, die sie erhalten, sehr bewusst. 

Das Schaffen von Werten ist auch ein Schwerpunkt der täglichen buddhistischen Ausübung von Mitgliedern der Soka Gakkai. 


Die weltweite Entwicklung der Soka Gakkai zeigt, wie der Bildungshumanismus im Bereich der Religion einen unveränderten Wert ausübt. Und ich möchte behaupten, dass nicht nur die Soka-Schulen, sondern auch die Soka Gakkai selbst wie eine „Institution" ist, die Weltbürger:innen hervorgebracht hat. Durch eine Vielzahl von inspirierenden Aktivitäten erweitern die Mitglieder der Soka Gakkai ihren Horizont. Und während sie global denken, vergessen sie nie ihre direkte Umgebung. So sollten Weltbürger:innen sein. So trägt das Lokale zum Globalen bei und schätzt ebenso das, was andere beitragen.

Wenn ich an die Kultur und die Tradition der Soka Gakkai denke, Weltbürger:innen zu erziehen, ist es nicht verwunderlich, dass sie als Bildungsorganisation begann. Als Pädagoge und Buddhist stellte Makiguchi den Nationalismus infrage, der die Unantastbarkeit des Lebens missachtet und Japan und den Rest der Welt in die Katastrophe des Krieges führte. Makiguchi bewies Zivilcourage und stellte sich dem japanischen Militarismus entgegen. Es bewegt mich enorm, dass er bereit war, für seine Überzeugungen zu sterben. Dewey erkannte, dass Bildung eines der mächtigsten Werkzeuge ist, um die Kräfte des extremen Nationalismus und der Verlogenheit zu überwinden. Ich glaube, dass Makiguchi das auch erkannte und dass die damalige Krise eine Folge des Versagens in der Erziehung zur Weltbürgerschaft war.

Heute greift der Nationalismus in vielen Ländern wieder um sich. Angst, Wut und Diskriminierung sind in den USA allgegenwärtig, und all das ist auf einen Mangel an Weltbürgertum zurückzuführen. Ein standardisiertes Bildungssystem voller Prüfungen fördert keine kreativen Fähigkeiten. Und die heutige Krise, die wir eine Bildungskrise nennen könnten, rührt daher, dass dieses Versagen fortgesetzt wurde.

Wichtig ist heute, dass die Persönlichkeit von Kindern gefördert wird. Der Kern dessen lässt sich darin sehen, was Präsident Daisaku Ikeda als „Toda-Universität" bezeichnete – die Bildung, die er von seinem Mentor Josei Toda, dem zweiten Präsidenten der Soka Gakkai, erhielt. Obwohl Ikeda nach dem Zweiten Weltkrieg keine Möglichkeit hatte, eine formale Hochschulbildung zu erhalten, lernte er nicht nur alle möglichen Fächer, sondern eignete sich durch Todas persönliche Lektionen die Philosophie und die Praxis der menschlichen Revolution an. Diese menschliche Revolution ermöglicht es jedem Menschen, Werte zu schaffen, indem er sich bewusst macht, dass er selbst die Hauptrolle im gesellschaftlichen Wandel spielt. Man muss nicht zur Universität gehen, um eine „höhere" Bildung zu erlangen.

Wie würden Sie die Soka Gakkai in ihrem 90. Jahr bewerten?

Wir leben heute in spirituell verarmten Zeiten. Im Jahr 1934 veröffentlichte Dewey A Common Faith (Ein gemeinsamer Glaube). Kurz nach der Gründung der Soka Gakkai und zu einer Zeit, als die Weltwirtschaftskrise die Gesellschaft erschütterte, fand er religiösen Sinn. Dewey stand der etablierten Religion und ihren Lehren kritisch gegenüber, betonte aber dennoch die Bedeutung des Religiösen, das er als gemeinsamen Glauben bezeichnete. 

Er glaubte, dass jede und jeder Einzelne zum Wohlergehen und Glück der Gesellschaft als Ganzes beitragen könne. Und das unter zwei Aspekten: Selbstentwicklung durch Zusammenarbeit mit anderen. Gemeinschaftliches menschliches Ringen, um Werte in der Gesellschaft zu schaffen, war der Kern des religiösen Humanismus von Dewey. Für ihn muss der religiöse Humanismus mit allen Arten von religiösen Überzeugungen zurechtkommen. Es ist ein Humanismus, der Menschen motivieren kann, zusammenzukommen und der die gewalttätige Welt in eine Welt der Zusammenarbeit und des Verständnisses verwandeln kann. Ich glaube, dass man Deweys religiösen Humanismus im Leben und in den Bemühungen der Mitglieder der Soka Gakkai finden kann.

Das herausragendste Beispiel sind die zahlreichen Dialoge, die Präsident Ikeda mit führenden Persönlichkeiten und Intellektuellen aus der ganzen Welt geführt hat. Seine Gesprächspartner:innen kamen aus verschiedenen Kulturkreisen und Gesellschaftsschichten, wie zum Beispiel Michail Gorbatschow aus Russland, um nur einen zu nennen. Auf diese Weise demonstrierte Präsident Ikeda die Kraft der Verbindung von Mensch zu Mensch, die selbst das Wesen von Religion ausmacht.

Ich „traf“ ihn zum ersten Mal, als ich eine Sammlung seiner Universitätsreden las. Darin beeindruckte mich seine Fähigkeit, die Lehren des Nichiren-Buddhismus an jeden kulturellen Kontext anzupassen. Er hat eine wunderbare Gabe: die absolut größtmögliche Gastfreundschaft anzubieten, die es auf der Welt geben kann. Ich bin mir sicher, dass dem so ist, weil er für einen Humanismus des größeren, beständigen Selbst eintritt. Das ist das kosmische Leben des Universums, das uns alle verbindet und es uns erlaubt, das Beste ineinander zu erkennen, ungeachtet oberflächlicher Unterschiede. Tatsächlich vergrößern Unterschiede die Freude, sich zu begegnen und voneinander zu lernen.

Mitglieder der Soka Gakkai, die in die Fußstapfen von Präsident Ikeda treten, setzen sich aus verschiedenen Personengruppen zusammen und sie arbeiten zusammen, um einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Das ist wirklich wunderbar. Indem sie an das unendliche Potenzial anderer Menschen glaubt und sich für ihr Glück einsetzt, hat die Soka Gakkai einen Humanismus der Hoffnung in jeden Teil der Welt und in jeden Aspekt des Lebens der Menschen getragen. Und ich glaube, dass dies in ihrer 90-jährigen Geschichte immer der Kern der Aktivitäten der Soka Gakkai war.

Prof. Jim Garrison [© Seikyo Shimbun]