Für den universellen Respekt vor der Würde des Menschen: Der großartige Weg zum Frieden Friedensvorschlag 2016
© 2016 Soka Gakkai in Deutschland
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© Daisaku Ikeda
Englische Übersetzung © Soka Gakkai
Deutsche Übersetzung © Soka Gakkai International-Deutschland e. V.
Inhalt
Der tiefe Strom der Menschlichkeit
Die Grundlage altruistischen Handelns
Der Dialog als Weg zur Empathie
Aufbruch in eine menschlichere Welt
Ökologische Integrität und Katastrophenvorsorge
Abrüstung und Verbot von Atomwaffen
Dieses Jahr feiert die Soka Gakkai International (SGI) das 35. Jubiläum ihres Engagements als anerkannte Nichtregierungsorganisation (NGO) für die Vereinten Nationen. Geboren aus den verheerenden Erfahrungen zweier Weltkriege, erklärten die Vereinten Nationen (UNO) es zu ihrem Ziel, die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien und eine Welt zu erschaffen, in der Menschenrechte respektiert und Diskriminierung und Unterdrückung ausgerottet werden. Die Gründungsidee der Vereinten Nationen stimmt in vielerlei Hinsicht mit den Kernwerten von Frieden, Gleichheit und Mitgefühl überein, die wir als Buddhisten teilen.
Alle Menschen haben das Recht auf ein Leben in Glück. Das oberste Ziel unserer Bewegung besteht darin, in der Bevölkerung Solidarität und den Willen zu verbreiten, dieses Recht zu schützen und auf diese Weise sinnloses Leid aus der Welt zu schaffen. Unsere Unterstützungsarbeit für die Vereinten Nationen ist ein natürlicher und notwendiger Ausdruck dieser Überzeugung.
Unsere heutige Welt ist von Krisen gezeichnet, die das Leben und die Würde vieler Menschen aufs Bitterste bedrohen. Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen ist weltweit geradezu explodiert, besonders im Nahen Osten, wo sich der Syrienkonflikt unvermindert fortsetzt. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor bewaffneten Konflikten und Verfolgung.[1]
Darüber hinaus hat eine Serie von Naturkatastrophen innerhalb von weniger als einem Jahr das Leben von über 100 Millionen Menschen beeinträchtigt. 90 Prozent dieser Katastrophen waren klimabedingt, wie zum Beispiel Überschwemmungen und schwere Stürme, die neuen Anlass zur Sorge über die Auswirkungen der globalen Erwärmung geben.[2]
Vor diesem Hintergrund findet im Mai 2016 der erste UN-Weltgipfel für Humanitäre Hilfe im türkischen Istanbul statt. Die Beratungen im Vorfeld des Gipfels sind angesichts des beispiellosen Ausmaßes der aktuellen humanitären Herausforderungen durch ein zunehmendes Bewusstsein für die Dringlichkeit der Lage gekennzeichnet. Neben einer frühzeitigen Beilegung bewaffneter Auseinandersetzungen ist es entscheidend, einen Weg zu finden, um die widrigen Bedingungen zu ändern, unter denen so viele Menschen leben müssen.
Die SGI engagiert sich bereits seit Langem im Bereich der humanitären Hilfe, die z.B. aufgrund von Vertreibungen durch Konflikte und Naturkatastrophen benötigt wird. Deshalb nehmen auch Vertreter der SGI am Weltgipfel in Istanbul teil, der, so hoffen wir, weitere Gespräche über die Rolle von Glaubensgemeinschaften (FBOs) in der humanitären Hilfe und bei der Schaffung von Solidarität bei der Bevölkerung in Gang bringen wird.
Das Engagement der SGI innerhalb der Vereinten Nationen begann 1981 als NGO mit Beraterstatus für die UN-Hauptabteilung Presse und Information (DPI). 1983 wurde sie in den UNO-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) aufgenommen. Es war das Jahr, in dem ich meinen ersten Friedensvorschlag verfasste. Seitdem konzentrieren sich unsere Aktivitäten auf Bereiche wie Abrüstung, humanitäre Hilfe, Menschenrechtserziehung und nachhaltige Entwicklung.
An dieser Stelle möchte ich über die Kernelemente unseres Ansatzes als Unterstützer der Vereinten Nationen sprechen und einige Überlegungen und Perspektiven zur Rolle der Zivilbevölkerung bei der Lösung globaler Probleme wie humanitärer Krisen aufzeigen.
Der tiefe Strom der Menschlichkeit
Im September 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen ein Nachfolge-Rahmenwerk zu den Millennium-Entwicklungszielen (MDGs), die im Jahr 2000 beschlossen worden waren und die Bekämpfung von Armut und Hunger zum Ziel hatten. Die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) sind in dem Abschlussdokument der Regierungsverhandlungen Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development (dt.: Unsere Welt verändern: Die 2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung) beschrieben.Neben der Weiterführung der durch die MDGs begonnenen Arbeit sollen die neuen Ziele bis 2030 umfassende Konzepte zu Kernthemen wie Klimawandel und Katastrophenschutz hervorbringen. Am deutlichsten wird die Entschlossenheit, niemanden zu vernachlässigen, wahrscheinlich im ersten Entwicklungsziel: „Armut in jeglicher Form überall auf der Welt beenden“. Das ist gegenüber den MDGs, die bereits zu einer Halbierung extremer Armut geführt haben, ein wichtiger Fortschritt, denn die Formulierung signalisiert unmissverständlich, dass kein Mensch seinem Schicksal überlassen bleiben darf.
Die Agenda 2030 betont die Notwendigkeit, besonders gefährdeten Personengruppen wie Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Flüchtlingen und Migranten Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Sie fordert eine stärkere, auf die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppen zugeschnittene Unterstützung und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Regionen, in denen humanitäre Notstände herrschen oder Terrorismus das alltägliche Leben beeinträchtigt.
Das Prinzip, dass kein Mensch auf der Strecke bleiben darf, hat in den SDGs eine zentrale Rolle erhalten. Darüber freue ich mich ganz besonders, denn das ist etwas, das ich seit Langem fordere. Darüber hinaus habe ich stets betont, dass der Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte von Vertriebenen und Migranten in die SDGs aufgenommen werden muss. Angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen führt kein Weg in die Zukunft an einer Auseinandersetzung mit der Not dieser Menschen vorbei. So gesehen ist der UN-Weltgipfel für Humanitäre Hilfe, bei dem die Flüchtlingskrise im Mittelpunkt der Gespräche stehen wird, ein erster Schritt zur Umsetzung der SDGs.
In den fünf Jahren seit Beginn des Syrienkonflikts haben mehr als 200.000 Menschen ihr Leben verloren, fast die Hälfte der Bevölkerung wurde aus ihrem Zuhause und ihrer Heimat vertrieben. Die Kriegsverwüstungen haben nichts und niemanden verschont: Wohn- und Geschäftsgebäude, Krankenhäuser und Schulen wurden zerstört, Zufluchtsorte gezielt angegriffen und Straßen geschlossen, sodass die Versorgung mit Lebensmitteln und Hilfsgütern immer schwieriger geworden ist. Die Folge: Das syrische Volk, das vor dem Bürgerkrieg so bereitwillig Flüchtlinge aus anderen Ländern aufgenommen hatte, befindet sich nun selbst auf der Flucht. Auf der Flucht vor einem Krieg, dessen Ende noch lange nicht in Sicht ist, haben große Massen von Menschen Grenzen überquert. Doch dort lauerten neue Gefahren. Viele Kinder wurden von ihren Familien getrennt, während das ungewöhnlich kalte Wetter im Nahen Osten und fehlgeschlagene Überfahrten über das Mittelmeer das Leben zahlloser Menschen forderten.
„Das Leben als Flüchtling ist, als würde man im Treibsand stecken – bei jeder Bewegung sinkt man weiter ein.“[3] Mit diesen Worten zitierte der frühere Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen António Guterres einen Vater, der aus Syrien geflüchtet war, um die schlimmen Bedingungen zu verdeutlichen, mit denen viele Flüchtlingsfamilien zu kämpfen haben. Für unzählige Menschen bringt die Flucht keine Sicherheit, sondern extreme Armut und neue Ungewissheit.
Auch Afrika und Asien verzeichnen einen stetigen Anstieg von Flüchtenden und Binnenvertriebenen. Das Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) ist bei der Organisation von Hilfsmaßnahmen federführend, aber es gibt immer mehr Menschen, die dringend Überlebenshilfe benötigen.
Die vielen Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa strömen, lösen starke Reaktionen aus. Besonders bewegt haben mich folgende Worte eines Einwohners einer italienischen Hafenstadt in einem Bericht von Inter Press Service (IPS): „Das sind Menschen aus Fleisch und Blut, genau wie wir. Wir können sie doch nicht einfach ertrinken lassen!“[4]
In Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern Schutz vor Verfolgung zu suchen und gewährt zu bekommen.“ Noch wichtiger aber ist das Mitgefühl dieses italienischen Bürgers. Dieses Mitgefühl, das unabhängig von kodifizierten Normen in uns wohnt, ist das Licht der Menschlichkeit, das überall und in jeder noch so ausweglosen Situation Hoffnung schenkt.
Darum ging es auch in der Ausstellung The Courage to Remember: The Holocaust 1939–1945 – The Bravery of Anne Frank and Chiune Sugihara (dt.: Der Mut sich zu erinnern: Der Holocaust 1939–1945 – Die Tapferkeit von Anne Frank und Chiune Sugihara), die in Zusammenarbeit mit dem Soka Gakkai Friedenskomitee organisiert und vergangenen Oktober in Tokio gezeigt wurde.
Die Ausstellung porträtierte das Leben und den Kampf von Anne Frank (1929–1945), eines jüdischen Mädchens, das die Hoffnung auch in ihrem Versteck vor den Nazis in Amsterdam nicht aufgeben wollte, und die Geschichte des japanischen Diplomaten Chiune Sugihara (1900–1986), der entgegen der Anweisung des japanischen Außenministeriums Visa für 6.000 jüdische Flüchtlinge ausstellte. Historische Aufzeichnungen belegen, dass inmitten der Judenverfolgung in Europa Diplomaten aus vielen Ländern sich den Vorschriften widersetzten, ihrem Gewissen folgten und Flüchtende in Sicherheit brachten.
The Courage to Remember
Die Ausstellung The Courage to Remember (dt.: Der Mut sich zu erinnern) wurde im Oktober 2015 erstmals im Tokioter Metropolitan Theatre gezeigt. Neben Themen wie dem Holocaust und dem Schicksal historischer Personen wie Anne Frank und Chiune Sugihara wurden auch aktuelle Menschenrechtsfragen thematisiert, mit der Botschaft, dass der Beitrag jedes Einzelnen zählt. Zu den Mitveranstaltern gehörten die Soka Universität und das Simon Wiesenthal Center. Unterstützt wurde das Projekt von den Botschaften Frankreichs, Deutschlands, Israels, Litauens, der Niederlande, Polens und der Vereinigten Staaten sowie einer Delegation der Europäischen Union, dem Außenministerium und dem Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie in Tokio, der Verwaltung der japanischen Präfektur Tokio, der Bildungsbehörde der Präfektur Tokio, dem UN-Informationszentrum und der Visas for Life Foundation. Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit dem Soka Gakkai Friedenskomitee geplant.
Es gab viele Einzelpersonen, die gemeinsam ein Netzwerk für den Schutz jüdischer Flüchtlinge schufen, genau wie die Frauen, die ihr Leben riskierten, um Familie Frank in ihrem Versteck zu unterstützen. Diese weitgehend unbekannten Bemühungen ganz einfacher Leute in vielen Ländern ist ein weiterer Ausdruck der Menschlichkeit, die im Schatten großer Ereignisse der Weltgeschichte ungebrochen weiterlebt.
Auch in der heutigen Zeit gibt es Menschen, die Flüchtlinge willkommen heißen, die angesichts der Geschichten dieser Menschen tiefes Mitgefühl empfinden und spontan ihre Hilfe anbieten. Für Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ist jede einzelne mitfühlende Tat ein wichtiger Motivationsschub, quasi ein Rettungsseil.
Selbst eine scheinbar kleine Geste kann eine bedeutende, manchmal entscheidende Wendung herbeiführen. Zu den kritischen Stimmen, die behaupten, dass man unmöglich alle retten kann, sagte Mahatma Gandhi (1869–1948) einmal zu seinem Enkel: „In diesen Situationen ist entscheidend, dass man das Leben einzelner Menschen verändert. Der Einzelne kann sich nicht um Tausende kümmern. Wenn wir aber das Leben eines Menschen verändern und dieses Leben retten können, ist das eine große Veränderung, die wir sehr wohl bewirken können.“[5]
Die Grundlage altruistischen Handelns
Gandhis Überzeugung gründet auf derselben Idee, die nicht nur die religiöse Ausübung der SGI, sondern auch unsere Unterstützungsarbeit für die Vereinten Nationen und andere sozial engagierte Organisationen leitet – die Entschlossenheit, jeden Einzelnen wertzuschätzen.Die Grundlage des Buddhismus ist die Überzeugung, dass jedem Menschen eine tiefe, unantastbare Würde innewohnt. Diese Überzeugung muss jedoch, wie die folgende Passage aus Shakyamunis Lehren andeutet, durch den Prozess der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis erst erweckt werden: „Gewalt lässt alle erzittern; das eigene Leben ist jedem lieb. Wer sich in andere hineinversetzt, kann niemanden töten oder zum Töten veranlassen.“[6]
Mit anderen Worten: Der Buddhismus nimmt den menschlichen Impuls, Leid zu vermeiden, und die Wertschätzung des eigenen Lebens als Ausgangspunkt. Das führt zu der Erkenntnis, dass andere ebenso empfinden müssen. Je tiefer wir uns in andere hineinversetzen können, desto greifbarer wird für uns ihr Leid. Shakyamuni fordert uns auf, die Welt durch solch mitfühlende Augen zu sehen und einen Lebensstil zu pflegen, der alle Menschen vor Gewalt und Diskriminierung schützt.
Der im Buddhismus gelehrte Altruismus ist nicht gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Vielmehr bringen uns die Erkenntnis, dass unsere Existenz unvermeidbar mit Leid verbunden ist, und der Weg, den wir gehen müssen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, an einen Punkt, an dem wir uns dem Leid aller Menschen gegenüber öffnen können, über alle Grenzen und Kulturen hinweg. Die Weigerung, das Leid anderer als losgelöst von unserer eigenen Existenz zu sehen, lässt unsere Menschlichkeit aufleben.
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) erklärte in seinem Porträt über Shakyamuni, dieser sei von der Erkenntnis geleitet gewesen, dass „zu allen sprechen heißt, zu jedem Einzelnen zu sprechen“[7], als er erklärte: „In einer Welt, in der es finster geworden ist, werde ich die Trommel sein, die niemals verstummt.“[8]
Als Erben dieses Gedankens in der heutigen Zeit haben die Mitglieder der SGI es sich zur Aufgabe gemacht, Freude und Leid der Menschen mitfühlend zu teilen und gemeinsam mit ihnen in einem wachsenden Netzwerk aus Verbindungen von Herz zu Herz voranzugehen.
Die buddhistische Grundhaltung, jedem Menschen mit Wertschätzung zu begegnen, wird durch einen weiteren Aspekt ergänzt: die Überzeugung, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Lebensweg oder ihren Lebensumständen die Fähigkeit besitzen, Licht an dem Ort zu verbreiten, an dem sie sich gerade befinden. Wir wollen uns nicht von äußeren Erscheinungsmerkmalen leiten lassen und den Wert oder das Potenzial einer Person herabwürdigen, sondern uns auf die Würde besinnen, die jedem Menschen innewohnt. Auf diese Weise ermutigen wir uns gegenseitig, in Hoffnung zu leben und uns vom Licht dieser Würde leiten zu lassen.
Der Buddhismus fordert uns auf, Lehren aus den Herausforderungen unseres eigenen Lebens zu ziehen. So können wir unser persönliches Glück finden und zugleich die Menschen um uns herum und die Gesellschaft als Ganze inspirieren. Nichiren (1222–1282), ein buddhistischer Gelehrter des 13. Jahrhunderts, dessen Lehren die Aktivitäten der SGI inspirieren, betonte, dass jeder in Buddha sein kann, dass alle Menschen eine innere Würde besitzen und ihren Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt sind. Dies sei die Essenz von Shakyamunis Lotos-Sutra und Kern der buddhistischen Lehre.
Im Lotos-Sutra wird dies durch eine Reihe beeindruckender Szenen mit Shakyamuni und anderen Protagonisten veranschaulicht. So heißt es z.B. über Shariputra, einen Schüler, der für sein intellektuelles Verständnis der Lehren Shakyamunis bekannt war, dass seine „Gedanken vor Freude tanzten“,[9] als er sich der Würde seines eigenen Daseins gänzlich bewusst wurde. Bewegt vom Anblick des glücklichen Shariputra und den warmen Worten Shakyamunis wurden vier weitere Schüler gleichermaßen mit Freude erfüllt. Sie erzählten das Gleichnis vom reichen Mann und seinem armen Sohn und brachten dadurch ihre Freude darüber zum Ausdruck, ein so unendlich kostbares Juwel „einfach so erhalten zu haben, ohne danach zu streben“.[10]
Als sie das Gleichnis hörten, erhoben viele Bodhisattvas ihre Stimmen und forderten, alle Widrigkeiten zu überwinden, um sich für das Glück der Menschen einzusetzen. Als sich die Erzählung schließlich auf die Frage zubewegte, wer die buddhistische Praxis nach Shakyamunis Ableben weiterführen solle, trat eine riesige Gemeinschaft von Bodhisattvas aus der Erde hervor und gelobte, sie für alle Zeiten und überall weiterleben zu lassen.
Die Szene gipfelt in einem Chor der Schwüre, als sich die Schüler Shakyamunis durch die Begegnung mit Buddhas Lehren der Würde ihres eigenen Daseins bewusst werden. Da sie dieselbe Würde nun auch in anderen erkennen, geloben sie einer nach dem anderen, das Licht ihres eigenen und des Lebens anderer Menschen weiterzugeben und so die Menschheit zu erleuchten.
Das Gleichnis vom reichen Mann und seinem armen Sohn
Im Buddhismus nennt man Menschen, die nach Erleuchtung suchen und sich in altruistischen Praktiken üben, Bodhisattvas. Sie zeichnen sich durch großes Mitgefühl und das Streben nach Weisheit aus. Das Lotos-Sutra besagt, dass alle Menschen das Potenzial haben, Erleuchtung zu finden, und veranschaulicht diese revolutionäre Erkenntnis mit Hilfe von Gleichnissen, die von führenden Bodhisattvas weitergegeben werden, um den Menschen vor Augen zu führen, dass in jedem von ihnen ein Buddha steckt. Eines dieser Gleichnisse erzählt von einem Sohn, der vor seinem reichen Vater davonläuft, um in Armut zu leben. Fünfzig Jahre später trifft er seinen reichen Vater wieder, erkennt ihn aber nicht. Daraufhin schickt sein Vater einen Diener zu ihm, der ihm eine bescheidene Arbeit anbieten soll. Der Sohn nimmt die Arbeit an und verrichtet sie viele Jahre lang. Nach und nach erhält der Sohn immer größere Aufgaben, bis der Vater seine wahre Identität enthüllt und seinem Sohn all seine Reichtümer vermacht. Der arme Mann steht für den gewöhnlichen Menschen, der in der Dreifachen Welt wandelt, und der reiche Mann für den Buddha, dessen einziges Bestreben darin besteht, allen Menschen die Fähigkeit zu vermitteln, den Zustand der Erleuchtung zu erreichen.
Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist ein junges Mädchen, die Tochter des Drachenkönigs, die schwört, durch die Verbreitung der Lehren des Lotos-Sutra andere von ihrem Leid zu befreien. Ihre stets schwurgetreuen Taten lassen jeden, dem sie zuteil werden, erstaunt und voll des Lobes jubeln. Inmitten dieses Strudels der Freude erkennen zahllose Menschen den Wert und die Würde, die jedem von ihnen innewohnt. Durch die treue Erfüllung ihres Versprechens löst dieses Mädchen, von dem es heißt, es habe zuvor zu den Menschen gehört, die weit von der Erleuchtung entfernt waren, eine Kettenreaktion der Freude aus und belegt damit die These, dass jeder Mensch den Weg eines Buddha beschreiten kann. Vor diesem Hintergrund ermutigte Nichiren weibliche Schüler, die mit ihrem Dasein rangen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern und „dem Weg der Tochter des Drachenkönigs zu folgen“.[11] Japan war im 13. Jahrhundert von Naturkatastrophen und militärischen Auseinandersetzungen geprägt. Um die Bevölkerung vor Leid zu schützen, protestierte Nichiren gegen die Obrigkeit, wofür er mehrfach verfolgt wurde. Selbst im Exil schrieb er weiter ermutigende Briefe an seine Anhänger und bereitete allen einen warmherzigen Empfang, die den weiten Weg auf sich nahmen, um ihn zu besuchen. Er forderte seine Schüler auf, seine Briefe gemeinsam zu lesen und sich gegenseitig Halt und Unterstützung zu geben für die Prüfungen, die das Leben ihnen auferlegte.
Dieses proaktive Engagement, die damit verbundene Freude und die gegenseitige Unterstützung leben heute in den kleinen Austauschtreffen weiter, die seit der Gründung der Soka Gakkai im Jahr 1930 Tradition haben. Die Teilnehmer erkennen bei diesen Treffen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Sie können neuen Mut aus dem Beispiel anderer Teilnehmer schöpfen, die davon erzählen, wie sie ihre Herausforderungen gemeistert haben. Und diese neu entdeckte Entschlossenheit ermutigt wiederum andere.
Ermutigen und ermutigt werden … Durch dieses Geben und Nehmen, durch den Entschluss eines Einzelnen, werden andere inspiriert. Es wird eine Hoffnung zum Leben erweckt, die Menschen auch unter widrigsten Umständen vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die katalysierende Wirkung des Austauschs von Mensch zu Mensch ist die Kernidee der SGI-Austauschtreffen.
Diese Austauschtreffen finden heute überall auf der Welt statt. Menschen mit den unterschiedlichsten Lebenswegen, jedes Geschlechts und verschiedener Altersklassen, sozialer Schichten und Lebensumstände versammeln sich als Mitglieder einer Gemeinschaft, um die Lebensgeschichte und die tief empfundene Emotion des Einzelnen zu hören. Gemeinsam erneuern die Teilnehmer ihre Entschlossenheit und fassen neuen Mut zu handeln.
Die Austauschtreffen sind ein wichtiges Element der Bemühungen der SGI um die Selbstbefähigung (Empowerment) der Menschen. Sie sind Ausdruck dessen, wie wir selbst unsere Aufgabe innerhalb der Gesellschaft sehen. Durch sie versuchen wir, ein neues Bewusstsein für die Bedeutung und die unbegrenzten Möglichkeiten jedes Einzelnen zu schaffen, etwas, das inmitten der zunehmenden und immer komplexeren Bedrohungen in unserer Welt leider oft vergessen wird.
Sie sind eine Energiequelle für unsere Friedensbemühungen und unsere Unterstützungsarbeit für die Vereinten Nationen. Wir zeigen damit, dass religiöse Ausübung und soziales Engagement miteinander einhergehen. Durch diese Doppelstrategie bekräftigen wir immer wieder aufs Neue unsere Entschlossenheit, niemals Glück auf Kosten anderer zu suchen, und denjenigen, die am meisten gelitten haben, ihr Recht auf Glück vor Augen zu führen. Auf diese Weise möchten wir eine Welt erschaffen, in der die Würde aller Menschen wirklich erblühen kann.
Mut zur Anwendung
Bei unseren Aktivitäten zur Unterstützung der Vereinten Nationen folgen wir einem lernorientierten Ansatz, dessen Schwerpunkt auf der Praxis des Dialogs liegt.
An dieser Stelle möchte ich zwei wichtige Funktionen des Lernens näher beleuchten. Die erste ist, dass Menschen durch Lernen in die Lage versetzt werden, die Wirkung ihres Tuns genau einzuschätzen und positive Veränderungen für sich und andere herbeizuführen.
Der Gründungspräsident der Soka Gakkai, Tsunesaburo Makiguchi (1871–1944), war ein leidenschaftlicher Verfechter der humanistischen Bildung. In seinem Werk Soka kyoikugaku taikei (dt.: Das System der Werte schaffenden Pädagogik) von 1930, das die Entwicklung der SGI entscheidend beeinflusste, beschreibt er drei verschiedene Lebensweisen der Menschen: abhängig, unabhängig und mitwirkend.
Bei der abhängigen Lebensweise ist ein Mensch in der Regel nicht in der Lage, sein eigenes Potenzial zu erkennen. Er gibt jede echte Möglichkeit einer Veränderung seiner Lebenssituation auf, bleibt passiv und richtet sich nach Menschen in seiner direkten Umgebung oder schwimmt in größeren Strömungen in der Gesellschaft mit.
Die unabhängige Lebensweise ist dadurch gekennzeichnet, dass Menschen ihren eigenen Lebensweg engagiert gestalten, aber wenig Interesse für andere Menschen übrig haben, die ihre Lebenswirklichkeit nicht direkt berühren. Sie gehen kurzerhand davon aus, dass jeder, ganz gleich, wie schwierig die Umstände auch sein mögen, selbst dafür verantwortlich ist, aus eigener Kraft eine Lösung zu finden.
Makiguchi veranschaulichte die Problematik einer solchen Lebensweise mit folgendem Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand legt einen riesigen Stein auf ein Bahngleis. Ohne Frage ist das eine bösartige Tat. Wenn aber nun ein anderer weiß, dass der Stein dort liegt, und ihn trotzdem nicht beseitigt, wird das unweigerlich zu einem Zugunglück führen.
Mit anderen Worten: Wenn wir eine Gefahr erkennen, aber nichts tun, weil die Gefahr uns persönlich nicht betrifft, dann wird dieses Nichttun von Gutem fatale Folgen haben. „Alle reden davon, dass es falsch ist, Böses zu tun, aber unerklärlicherweise wird für das Nichttun von Gutem niemand zur Verantwortung gezogen. So bleiben soziale Missstände ungelöst.“[12]
Der letzte Zweifel daran, dass das Nichttun von Gutem ebenso falsch ist wie aktiv Böses zu tun, löst sich in nichts auf, wenn wir uns vorstellen, wie wir selbst in diesem Zug sitzen und zum Opfer der Katastrophe werden.
In Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen des Zeitgeschehens sehen wir immer wieder die stillschweigende Duldung der Opferung der Interessen einiger Menschen für das größtmögliche Glück der Mehrheit. Welche Tücken auf diesem Pfad lauern, sieht man z.B. sehr deutlich am Klimawandel. Durch die Bereitschaft, das Leid anderer hinzunehmen, zerstört die Menschheit die Grundlagen ihres eigenen Überlebens. Auch wenn man selbst gegenwärtig nicht durch eine konkrete Gefahr bedroht ist, so ändert dies nichts daran, dass früher oder später die ganze Welt davon betroffen sein kann.
Die amerikanische Politikphilosophin Martha C. Nussbaum warnt davor, sich allzu sehr auf die Erfüllung kurzfristiger Interessen zu konzentrieren, und fordert stattdessen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Menschheit eine globale Gemeinschaft ist. „Mehr als je zuvor sind wir heute alle von Menschen abhängig, die wir noch nie gesehen haben, und sie sind ebenso abhängig von uns … Niemand von uns steht außerhalb dieses globalen Abhängigkeitsverhältnisses.“[13]
Die Förderung der Vorstellungskraft durch Bildung und Lernen steigert die Solidarität der Menschen untereinander und führt zu mehr Engagement für die Lösung globaler Probleme.
Makiguchi plädierte seinerseits für eine Lebensweise, mit der man einen Beitrag zur Gesellschaft leistet. „Echtes Glück kann es nur geben, wenn man als Mitglied der Gesellschaft die Freude und das Leid aller Menschen mitfühlend teilt.“[14] In der heutigen Zeit ist es nötig, diese Erkenntnis auf der ganzen Welt zu verbreiten. Nichts könnte wichtiger sein.
Der Buddhismus sieht die Welt als ein Geflecht von Verbindungen, in dem sich kein Element von irgendeinem anderen lösen lässt. Augenblick für Augenblick wird die Welt von wechselseitigen Beziehungen bestimmt. Wenn wir das verstanden haben und in der Tiefe unseres Daseins erkennen, dass wir in diesem Geflecht von Beziehungen leben, dass unsere Existenz dadurch überhaupt erst ermöglicht wird, können wir ganz klar sehen, dass es kein Glück geben kann, das nur uns zuteil wird, und kein Leid, das nur andere betrifft.
So gesehen sind wir selbst genau dort, wo wir uns jetzt gerade befinden, der Ausgangspunkt für eine Kettenreaktion der positiven Veränderung. Wir sind nicht nur in der Lage, unsere persönlichen Schwierigkeiten zu meistern, sondern können auch einen Beitrag dazu leisten, dass sich unser direktes Umfeld und sogar die gesamte Menschengemeinschaft in eine bessere Richtung entwickelt.
Das spürbare Bewusstsein für die unzähligen Beziehungen, die uns mit allem Leben verbinden, gibt uns den erforderlichen Rahmen bzw. die nötige Orientierungshilfe, um die Beziehung zwischen uns und unseren Mitmenschen und der Gesellschaft insgesamt überdenken zu können. Dies ist die Lebensweise, zu der der Buddhismus führen will.
Bildung ist hier ein ganz entscheidender Punkt, denn sie ermöglicht es uns, diesen Rahmen mit real erfahrener Empathie zu füllen, wenn wir dem Leid anderer begegnen. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit verbessert sich, wenn wir erfahren, welche Hintergründe und Ursachen Probleme wie Umweltzerstörung und Ungleichheit zwischen Menschen haben, und das wiederum stärkt den ethischen Rahmen, innerhalb dessen wir diese Probleme zu lösen versuchen.
Die zweite Funktion des Lernens ist, dass wir dadurch den Mut aufbringen, auch unter widrigen Umständen durchzuhalten.
Die Herausforderungen der Menschheit wie Armut und Naturkatastrophen gestalten sich unterschiedlich, je nachdem, wo und vor welchem Hintergrund sie in Erscheinung treten. Wie ich schon in Bezug auf den Klimawandel feststellte, sind die Auswirkungen verschiedener Bedrohungen so stark, dass sie jeden jederzeit und überall betreffen können. Deshalb sind tagtäglich an jedem Ort Bemühungen notwendig, um die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Gemeinschaften zu stärken. Damit meine ich einerseits die Fähigkeit, Krisen vorzubeugen oder sie zu lösen, andererseits aber auch die Fähigkeit, wohlüberlegt zu planen, um im Katastrophenfall auch unter schwierigen Bedingungen flexibel und aktiv reagieren zu können.
Als Pädagoge ging es Makiguchi hauptsächlich darum, die Erkenntnisfähigkeit seiner Schüler zu verbessern. Sie sollten die Bedeutung der Ereignisse um sie herum und des aktiven Handelns verstehen, etwas, das er als „Mut zur Anwendung“ bezeichnete.[15] Für ihn ist das wahre Ziel der Bildung, die Fähigkeit zu fördern, Möglichkeiten zu entdecken, das durch Bildung erworbene Wissen anzuwenden und zwar so wirkungsvoll wie möglich.
Es geht also nicht darum, den Kindern die richtigen Antworten zu präsentieren, sondern vielmehr darum, sie „auf Möglichkeiten zur Anwendung des Gelernten hinzuweisen und ihren Blick darauf zu lenken“.[16]
Makiguchi betonte, wie wichtig es sei, den Mut zur Anwendung zu fördern, also die Fähigkeit, Probleme durch aktives Handeln zu lösen. Dies kann auf der Grundlage erworbenen Wissens über eine bestimmte Art von Problemen geschehen. Es ist der Mut zur Anwendung, der verhindert, dass wir von negativen Ereignissen überwältigt werden, und der uns die Fähigkeit verleiht, die Zukunft zu erschaffen, die wir uns wünschen.
Die genauen Umrisse der nachhaltigen globalen Gesellschaft, die die SDGs erreichen wollen, sind nicht genau definiert oder im Voraus festgelegt. Weil sich Krisen und Bedrohungen an unterschiedlichen Orten verschieden darstellen, kann es keine allgemeingültige Formel für die Herbeiführung von Nachhaltigkeit geben. Auch wenn der Versuch, Nachhaltigkeit durch die Integration wirtschaftlicher, sozialer und umweltbezogener Dimensionen zu schaffen, durchaus positive Ergebnisse zutage bringt, sollten diese Ergebnisse niemals als das finale und bestmöglich erreichbare Ergebnis hingenommen werden.
In den vergangenen Jahren ist die Bedeutung der Notfallplanung in den Fokus gerückt, also die Fähigkeit, schnell auf veränderte Realitäten zu reagieren. Andrew Zolli und Ann Marie Healy sagten dazu, „das Ziel muss eine gesunde Dynamik sein, kein unveränderlicher Stillstand“.[17] Diese Einstellung stimmt mit der buddhistischen Auffassung der Realität als Geflecht von Beziehungen zutiefst überein.
Die tatsächlichen Umrisse der nachhaltigen globalen Gesellschaft werden sich abzeichnen, wenn jeder von uns die Dinge, die er als unersetzlich wertvoll empfindet, mit Bedacht behandelt und schützt, um sie an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Hierin liegt die Bedeutung unserer Bemühungen, überall dort, wo wir gerade sind, Werte zu schaffen, und zwar durch Worte und Taten, die in diesem Moment allein in unserer Hand liegen.
Anders als bei dem etwas formalistischeren Ausdruck „Akt der Anwendung“ drückt Makiguchi mit „Mut zur Anwendung“ seinen Glauben an die jedem Menschen innewohnende Fähigkeit aus, auch unter schwierigen Umständen unbeirrt stark zu bleiben, und seine Überzeugung vom unermesslichen Wert jedes einzelnen Menschen.
Aus dieser Sicht betrachtet, erhalten die Worte einer 17-jährigen jungen Frau aus Simbabwe, die im Februar 2015 bei einer Podiumsveranstaltung der Organisation UN Women am UN-Hauptsitz sprach, umso mehr Gewicht: „Wir sind 860 Millionen junge Frauen und Mädchen, die in Entwicklungsländern leben. Wir sind mehr als nur eine Zahl. Wir sind 860 Millionen Träume, 860 Millionen Stimmen und haben die Kraft, etwas zu verändern!“[18]
Angesichts immer schwerwiegenderer Bedrohungen und Krisen verliert man leicht den Blick für den Wert des Lebens und das unbegrenzte Potenzial des Einzelnen. Das Ausmaß der Herausforderungen kann die Geschichten, Träume, unausgesprochenen Gefühle des Einzelnen und seine Fähigkeit zur Veränderung der eigenen Situation überdecken. Durch Bildungsaktivitäten versucht die SGI, Bewusstsein zu schaffen für die Vielzahl an Möglichkeiten, die jeder einzelne Mensch hat, und die Fähigkeit, die Realität um uns herum aktiv zu beeinflussen.
Besonders mit der Ausstellung Nuclear Arms: Threat to Our World (dt.: Atomwaffen: Bedrohung für unsere Welt) im New Yorker UN-Hauptquartier 1982 haben wir das Thema „Weltbürgertumserziehung“ (Global Citizenship Education) in den Mittelpunkt unserer Aktivitäten zur Lösung von globalen Problemen gerückt.
Durch Weltbürgertumserziehung, die die beiden vorgenannten Funktionen der Bildung erfüllt, wollen wir die folgenden vier miteinander verbundenen Prozesse anstoßen:
- die Probleme unserer Gesellschaft und die Herausforderungen der Welt insgesamt erkennen und verstehen
- uns an dem Koordinatensystem orientieren, das wir durch diese Erkenntnisse erstellt haben, um einen täglichen Reflexionsprozess in unseren Lebensstil zu integrieren
- befähigt werden, um das unbegrenzte Potenzial in unserem Leben zu nutzen
- gemäß eines transformationalen Führungsstils dort wo wir leben konkret handeln und dadurch eine neue Ära erschaffen
Ermutigt durch die Tatsache, dass die SDGs nun konkret auf die Bedeutung der Weltbürgertumserziehung hinweisen, werden wir unsere Arbeit mit Schwerpunkt auf diesen vier Punkten weiter vorantreiben.
Der Dialog als Weg zur Empathie
Neben dem lernorientierten Ansatz betonen wir auch die Bedeutung des Dialogs als Grundlage unserer Aktivitäten. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass der Dialog das wichtigste Werkzeug ist, um eine Welt zu erschaffen, in der niemand auf der Strecke bleibt.Um die Herausforderungen der Menschheit zu meistern, müssen wir immer wieder darüber sprechen, was wir schützen müssen, wer es schützen soll und wie. Wir müssen aus der Perspektive der am stärksten Betroffenen auf das jeweilige Problem blicken, um Lösungswege finden zu können. Der Dialog ist hierzu das Mittel.
Vor dem Hintergrund einer Reihe schwerer Natur- und Unwetterkatastrophen wurde im vergangenen März im japanischen Sendai bei der Dritten Weltkonferenz der Vereinten Nationen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken (DRR) das Sendai Rahmenwerk zur Reduzierung von Katastrophenrisiken beschlossen und damit gemeinsame Ziele wie z. B. die Verringerung der Zahl der von Naturkatastrophen betroffenen Personen bis 2030 formuliert.
Ich war begeistert darüber, welche Aufmerksamkeit dem Motto „Build Back Better“ (dt.: das Neue soll besser sein als das Alte) zuteil wurde. Es beinhaltet die Idee, dass Wiederaufbaumaßnahmen nach einer Katastrophe regionsspezifische Probleme, die schon vor der Katastrophe bestanden, berücksichtigen und auf eine Lösung hinarbeiten sollen. Ein Beispiel: Selbst wenn die Erdbebenresistenz von Häusern älterer, allein lebender Menschen im Rahmen der Reduzierung von Katastrophenrisiken verbessert wird, bleiben andere schwerwiegende Probleme ungelöst, wie z. B. der Zugang zu medizinischer Versorgung oder Geschäften. Maßnahmen, die etwas besser wiederaufbauen sollen, als es vorher war, müssen bei solchen wichtigen Problemen ansetzen.
Hier fühle ich mich an folgendes buddhistisches Gleichnis erinnert: Einmal betrachtete ein Mann ein prachtvolles dreistöckiges Haus, das einem reichen Mann gehörte, und beschloss, sich auch so ein Haus bauen zu lassen. Er beauftragte sofort einen Zimmermann, der umgehend mit der Arbeit begann. Zunächst errichtete er das Fundament und dann das erste und das zweite Stockwerk. Das verstand der Mann aber nicht, und er mahnte den Zimmermann zur Eile: „Das erste und zweite Stockwerk brauche ich ohnehin nicht!“ Darauf antwortete der Zimmermann erstaunt und ein wenig erbittert: „Tut mir leid, das ist leider unmöglich! Wie soll ich die zweite Etage ohne die erste bauen? Und die dritte ohne die zweite?“
Genau wie in diesem Gleichnis müssen Antworten auf humanitäre Krisen die Grundlagen sichern, nämlich die Würde eines jeden Menschen. Wiederaufbaumaßnahmen sollten nicht allein den physischen Wiederaufbau zum Gegenstand haben, sondern grundlegendere Fragen klären, z. B. wie man das Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft verbessern und die Kommunikation und gegenseitige Unterstützung unter den Mitgliedern der Gemeinschaft fördern könnte. Denn ohne dies werden keine zufriedenstellenden Ergebnisse zustande kommen.
Um echte Ergebnisse zu erreichen, müssen die am stärksten Betroffenen gehört und in den Dialog zur gemeinsamen Herbeiführung von Lösungen einbezogen werden. Das Dilemma an humanitären Krisen ist, dass es umso schwieriger ist, gehört zu werden, je größer die Notlage ist, in der man sich befindet. Durch den Dialog lernen wir die Erfahrungen der Betroffenen kennen und können alles zutage fördern, was nötig ist, damit niemand außen vor bleibt. Wer größtes Leid erfahren hat, hat unschätzbar wertvolle Einblicke und hilfreiches Wissen zu teilen.
Das Sendai Rahmenwerk nennt die Weitergabe von Wissen und Erfahrung als eine der Aufgaben, die Bürger und zivilgesellschaftliche Organisationen durch ihr aktives Engagement erfüllen können. In diesem Zusammenhang sind die Erfahrungen von Menschen aus Krisenregionen von entscheidender Bedeutung.
Das zeigte sich auch nach der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan vom 11. März 2011. Viele Menschen, die unmittelbar von der Katastrophe betroffen waren, konnten andere Opfer unterstützen und so einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau leisten. Durch die Unterstützung von Wiederaufbaumaßnahmen bekam die SGI die Möglichkeit, unfassbar viel aus den Erfahrungen Betroffener zu lernen, und betont deshalb bei internationalen Konferenzen immer wieder, wie wichtig es ist, die Stimmen und Fähigkeiten dieser Menschen zu würdigen.
Gleiches gilt für die Bemühungen um die Realisierung der SDGs. Regierungen, internationale Organisationen und NGOs müssen die Stimmen von Menschen in Notlagen hören, um entscheiden zu können, welche Schritte erforderlich sind und wie diese erfolgreich durchgeführt werden können.
Im Hinblick auf eine Welt voller Herausforderungen und Konflikte, in der gute Nachrichten Mangelware sind, betonte Amina J. Mohammed, Sonderberaterin des UN-Generalsekretärs für Entwicklungsplanung für die Jahre nach 2015, dass der Schlüssel zur Stärkung der internationalen Einheit darin bestehe, „der Menschlichkeit wieder Platz in unserer Mitte zu geben …, indem wir uns auf die Werte zurückbesinnen, die wir unterwegs verloren haben.“[19] Der Dialog ist in der Tat etwas, das jeder von uns überall auf der Welt und jederzeit nutzen kann, um die kollektive Menschlichkeit zurückzubringen.
Vier Sichtweisen des Salbaumhaines
Der Salbaumhain liegt im nördlichen Kushinagara in Indien, wo Shakyamuni starb. Es heißt, die Menschen würden den gleichen Hain aufgrund ihrer Lebenssituation unterschiedlich wahrnehmen. Ihre unterschiedliche Sicht des Haines wird anhand der Namen der vier Länder aus der Doktrin der buddhistischen Tiantai-Schule beschrieben. Manche sehen den Salbaumhain als Land der Heiligen und gewöhnlichen Sterblichen, für manche ist er das Land des Übergangs, während wieder andere darin das Land der tatsächlichen Belohnung oder das Land des ewig ruhigen Lichts sehen.
In Zeiten verschärfter Spannungen und Konflikte spielt der Dialog noch eine weitere wichtige Rolle: Er kann den Anstoß zur Erneuerung der Beziehung zwischen uns und anderen und zwischen uns und der Welt geben. Er dient als Quelle kreativer Energie, die den Verlauf der Epoche verändern kann.
Infolge der Globalisierung – eine der einschneidendsten Erscheinungen im 21. Jahrhundert – leben heute so viele Menschen wie nie zuvor vorübergehend im Ausland, um zu studieren oder zu arbeiten, oder haben sich entschlossen, ganz auszuwandern. Viele Länder erfahren einen Zustrom von Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe, ein Umstand, der die Chance zu gemeinsamem Handeln und verstärktem Austausch birgt. Zugleich aber nehmen auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu.
In meinem Friedensvorschlag vom vergangenen Jahr warnte ich vor der Gefahr von Hassreden und wies darauf hin, dass diese, ganz gleich, an wen sie sich richten, eine Verletzung von Menschenrechten sind, die man nicht ignorieren darf. Es ist wichtig, diese Erkenntnis in der internationalen Gesellschaft zu verankern. Wenn wir eine Gesellschaft errichten wollen, die gegen Fremdenfeindlichkeit und Aufstachelung zum Hass immun ist, müssen wir die Menschen daran erinnern, dass es verschiedene Sichtweisen gibt, und sie mit diesen konfrontieren. Der Dialog von Angesicht zu Angesicht spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die buddhistische Lehrgeschichte von den Vier Sichtweisen des Salbaumhaines zeigt, dass Menschen in verschiedenen mentalen oder spirituellen Zuständen ein und dieselbe Sache völlig unterschiedlich wahrnehmen. So kann z. B. auch der Blick auf einen Fluss unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: Der eine ist bewegt von der Reinheit des Wassers, der andere fragt sich, welche Fische wohl darin schwimmen, und der nächste fürchtet sich vor einer möglichen Überschwemmung. Was besonders wichtig ist: Das sind nicht nur unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen, sondern Empfindungen, die zu Handlungen motivieren, die die Landschaft verändern.
Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Lebensgeschichte meiner lieben Freundin Dr. Wangari Maathai (1940–2011). Die Menschen in ihrem kenianischen Geburtsort betrachteten Feigenbäume mit großer Ehrfurcht, weil sie zum Schutz der lokalen Ökosysteme beitragen. Als sie nach dem Abschluss ihrer Studien in den USA nach Kenia zurückkam, erwartete sie ein schockierender Anblick: Ein Feigenbaum, den sie seit ihrer Kindheit geliebt hatte, war vom neuen Besitzer des Grundstücks gefällt worden. Er wollte Platz schaffen, um Tee anbauen zu können. Durch diese Maßnahme veränderte sich nicht nur die Landschaft. Weil andere es dem Teebauer nachmachten und ihre Bäume fällten, kam es häufiger zu Erdrutschen, und das Trinkwasser wurde knapper.[20]
Dies ist ein schmerzliches Beispiel dafür, wie etwas, das von einem Menschen geschätzt wird, von einem anderen als störend empfunden werden kann. Die Probleme, die sich aus solchen Unterschieden ergeben, wirken sich nicht nur auf die Beziehung zwischen den betroffenen Einzelpersonen aus, sondern auch auf die Beziehungen zwischen ganzen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher kultureller und ethnischer Herkunft. Die Dinge, die unser Gewissen nicht erreichen, hören in unserer Version der Welt auf zu existieren.
Wir Menschen sind durchaus in der Lage, die Gefühle anderer Menschen nachzuvollziehen, besonders, wenn es Menschen sind, zu denen wir eine enge Bindung haben. Geografische und kulturelle Ferne schafft dagegen psychologische Distanz. Der rasante Vormarsch der Globalisierung scheint dieses Phänomen paradoxerweise zu verstärken, denn die modernen Kommunikationsmittel steigern die Tendenz, in Kategorien zu denken und Hass zu verbreiten. Das führt dazu, dass Menschen die Begegnung mit „den anderen“ meiden, selbst wenn sie in der gleichen Gemeinschaft leben. Sie sehen diese Menschen durch den Filter diskriminierender Vorverurteilungen. In der Gesamtgesellschaft zeichnet sich ein Nachlassen der Fähigkeit ab, andere wertzuschätzen, wie sie sind, und dafür, wer sie sind. Ich denke, der sicherste Weg, das zu ändern, besteht darin, die Geschichten anderer von Angesicht zu Angesicht zu hören.
Letztes Jahr brachte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zum Weltflüchtlingstag eine Kampagne zur öffentlichen Bildung auf den Weg, die die Lebensgeschichte von Menschen erzählt, die zu Flüchtlingen geworden sind. Der Betrachter soll dazu gebracht werden, über diese Geschichten mit Freunden und Bekannten zu diskutieren. Die jeweiligen Personen werden namentlich vorgestellt und mit Attributen beschrieben, die keinen Bezug zur Nationalität haben: „Gärtnerin. Mutter. Naturliebhaberin.“, oder „Student. Bruder. Poet.“[21] Sie erzählen ihre Geschichte und schildern die Gefühle, die sie angesichts ihrer derzeitigen Situation bewegen. Wenn uns die Lebensgeschichte und die Erfahrungen eines Menschen so realistisch und in vertrauten Begriffen geschildert werden, können wir diese Menschen wirklich sehen – außerhalb der gesichtslosen Masse, die wir „Flüchtlinge“ nennen.
Als ich Professor Ved Nanda von der University of Denver in den USA traf, erzählte er mir von einem Erlebnis, das er mit zwölf Jahren hatte. Er wurde im Zuge der Teilung Indiens 1947 gezwungen, sein Zuhause zu verlassen, und lief zusammen mit seiner Mutter tagelang auf der Suche nach Hilfe durch das Land. Er studierte Internationales Recht und wurde zu einem führenden Experten für Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen. Später schrieb er: „Ohne Zweifel haben meine frühen Kindheitserlebnisse mein Leben nachhaltig beeinflusst. Ich werde mich bis zu meinem letzten Atemzug an die tiefe Trauer erinnern, die ich empfand, als ich aus meinem Zuhause vertrieben wurde.“[22]
Wie der Versuch des UNHCR zeigt, kann sich unsere Wahrnehmung von Menschen anderer Religionen und ethnischer Gruppen durch den persönlichen Kontakt und den Dialog mit auch nur einem Vertreter dieser Gruppen verändern. Eine solche Begegnung kann eine ganz neue, andere Welt zum Vorschein bringen. Durch den offenen und direkten Dialog können wir plötzlich Dinge erkennen, die uns vorher verborgen geblieben sind, und die Welt erscheint in einem wärmeren, menschlicheren Licht.
Im September 1974 beschloss ich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, die Stimmen der Kritiker und der Opposition zu ignorieren und zum ersten Mal die Sowjetunion zu besuchen. Die Überzeugung, die mich dazu motivierte, war folgende: Wir brauchen die Sowjetunion nicht so sehr zu fürchten wie unser Unwissen über die Sowjetunion.
Konflikte und Spannungen an sich machen den Dialog noch nicht unmöglich. Was die Mauern zwischen uns aufbaut, ist unsere Ignoranz gegenüber anderen. Darum ist es wichtig, den Dialog auf den Weg zu bringen. Alles hängt davon ab.
Bei einem Willkommensdinner am Abend meiner Ankunft in Moskau drückte ich meine Gefühle folgendermaßen aus: „Die hell erleuchteten Fenster im wunderschönen sibirischen Winter strahlen auf den Betrachter eine menschliche Wärme, eine Herzenswärme aus. Wir versprechen, das Licht des menschlichen Herzens wertzuschätzen, ungeachtet unserer unterschiedlichen Gesellschaftssysteme.“
Die gleichen Empfindungen löste einige Jahrzehnte später, im Juni 1996, ein Besuch in Kuba in mir aus, nur zwei Monate, nachdem zwei amerikanische Zivilflugzeuge von der kubanischen Luftwaffe abgeschossen worden waren. Ich war überzeugt, dass der gemeinsame Wunsch nach Frieden selbst die größten Hindernisse überwinden kann. Von dieser Überzeugung getrieben, nahm ich einen offenen, uneingeschränkten Dialog mit dem damaligen Präsidenten Fidel Castro auf.
Bei einem Festvortrag in Havanna betonte ich, dass Bildung unsere hoffnungsvolle Brücke in die Zukunft ist. Danach brachten wir einen Bildungs- und Kulturaustausch auf den Weg, der bis heute fortbesteht. Als mich im vergangenen Juli die Nachricht erreichte, dass die Vereinigten Staaten und Kuba die diplomatischen Beziehungen nach 45 Jahren des Schweigens wieder aufnehmen wollen, erfüllte mich das mit großer Freude.
Selbstverständlich sind diplomatische Beziehungen wichtig, aber noch wichtiger sind der Dialog und der Austausch auf Graswurzelebene, die aktive Wahrnehmung der Realität und des Werts des Lebens anderer. Eine solche Sichtweise ist leider allzu oft durch Vorurteile gegenüber anderen Menschen und Religionen versperrt.
Ich bin überzeugt: Wenn wir als Individuen Freundschaft und Mitgefühl nutzen, um die Weltkarte in unseren Herzen neu zu zeichnen, dann wird die Welt um uns herum auch tatsächlich anfangen, sich zu verändern.
Mein Mentor Josei Toda (1900–1958), der zweite Präsident der Soka Gakkai, warnte immer wieder davor, sich bei der Suche nach Lösungen von nationalen oder sonstigen Zugehörigkeiten leiten zu lassen. Während sich die Menschen verschiedener Nationalitäten ein zivilisiertes Nebeneinander wünschten, seien die Beziehungen zwischen den Staaten von „ständiger Gewaltausübung unter dem Deckmantel der Kultur“ gekennzeichnet.[23]
Er beklagte außerdem, dass ideologische Unterschiede oft politische oder wirtschaftliche Konflikte hervorriefen, und äußerte seine Sorge, dass das Konzept der kollektiven Identität uns blind dafür Festvortrag des Autors an der Universität von Havanna, Kuba, Juni 1996 mache, dass wir alle Menschen sind. Er forderte eine breite Solidarität unter den Menschen, geeint durch den gemeinsamen Wunsch nach Frieden, und einen globalen Nationalismus, der auf dem Wunsch beruht, „dass das Wort ‚Elend‘ nicht weiter zur Beschreibung der Welt, eines Landes oder eines Menschen gebraucht wird.“
1996 gründete ich das Toda Institute for Global Peace and Policy Research, um die Arbeit meines Mentors fortzuführen. Im Februar dieses Jahres richtet das Institut eine Konferenz zum Thema „Weltreligionen und ihre Rolle bei der Schaffung von Frieden“ in Tokio aus. Die Konferenz, die Forscher und Denker aus Christentum, Judentum, Islam und Buddhismus zusammenbringt, wird sich mit dem Beitrag beschäftigen, den die Religion leisten kann, um die positiven Eigenschaften der Menschheit zutage zu fördern. Die Teilnehmer diskutieren Möglichkeiten, die Welt des 21. Jahrhunderts aus dem Sog von Gewalt und Hass zu befreien und eine neue Bewegung des Friedens und der menschlichen Werte zu begründen.
Jacques Maritain (1882–1973), der französische Philosoph, der am Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitwirkte, forderte einmal eine „Geologie des Gewissens“,[24] die bis zu unseren Gemeinsamkeiten durchdringt, die unter einer Kruste aus ideologischen und philosophischen Differenzen verborgen liegen. Durch seine Aktivitäten unter dem Motto „Dialog der Kulturen für eine globale Gesellschaft“ setzt sich das Toda Institute, das am 11. Februar sein 20-jähriges Bestehen feiert, aktiv für dieses Ziel ein.
Die Kraft, Menschen tief im Inneren zu bewegen, findet man nicht in formelhaften Aussagen oder Dogmen, sondern in den Worten, die der Erfahrung eines Menschen entstammen und das Gewicht gelebter Realität tragen. Solche Dialoge treffen die Lebensader unserer gemeinsamen Menschlichkeit und bringen einen spirituellen Reichtum, der die Menschheit erleuchtet, zurück an die Oberfläche. Diese Überzeugung leitet mich seit vielen Jahren bei meinem Austausch mit Menschen verschiedener kultureller, ethnischer und religiöser Hintergründe.
Die Begegnung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen öffnet unsere Augen für Dinge, die wir anderenfalls nie gesehen hätten. Denn der Klang der Menschen, die sich als Menschen begegnen, stimmt die Melodie einer neuen kreativen Energie an.
Hierin liegt die wahre Bedeutung des Dialogs: Er ist eine Schatzkiste der Möglichkeiten, ein Dynamo für die Fortgestaltung der Geschichte.
Sich im Dialog begegnen … Die Freundschaft und das Vertrauen, die dabei entstehen, legen den Grundstein für Solidarität zwischen den Menschen, die gemeinsam an der Lösung globaler Probleme und der Erschaffung einer friedlichen Welt arbeiten.
Aufbruch in eine menschlichere Welt
Als Nächstes möchte ich meine Gedanken zu drei Bereichen formulieren, die sofortiges und koordiniertes Handeln vonseiten der Regierungen und der Zivilgesellschaft erfordern:
- Humanitäre Hilfe und Schutz von Menschenrechten
- Ökologische Integrität und Katastrophenvorsorge
- Abrüstung und Verbot von Atomwaffen
Diese drei Postulate orientieren sich am Ideal einer Welt, die in den SDGs vorgezeichnet ist, einer Welt, in der niemand auf der Strecke bleibt.
Das erste betrifft die Bereiche humanitäre Hilfe und Wahrung von Menschenrechten. An dieser Stelle möchte ich zwei konkrete Vorschläge für den UN-Gipfel für Humanitäre Hilfe im Mai in Istanbul machen.
Erstens fordere ich die Gipfelteilnehmer auf, den Grundsatz zu bestätigen, dass sich unsere Maßnahmen bezüglich der sich verschärfenden Flüchtlingskrise in allererster Linie nach den internationalen Menschenrechtsbestimmungen richten müssen. Und ich bitte die Teilnehmer eindringlich um ein klares Bekenntnis zur Vorrangstellung des Schutzes des Lebens und der Rechte von Flüchtlingskindern.
Die Zahl der Vertriebenen, die im Ausland Schutz suchen, ist so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In den aufnehmenden Ländern wächst die Sorge über eine mögliche soziale Instabilität, die steigenden Staatsausgaben für humanitäre Zwecke und die Möglichkeit, dass Terroristen als Flüchtlinge getarnt ins Land einreisen könnten. Jedes Land muss für sich Maßnahmen treffen, um diesen Problemen zu begegnen. Aber jede Antwort auf die Flüchtlingsfrage muss dem Ziel dienen, das Leben und die Würde von Menschen zu schützen, das Herzstück des internationalen Menschenrechtskanons.
Genau wie bei Menschen, die ihr Zuhause durch Naturkatastrophen verloren haben und sich in Übergangslager flüchten mussten, können auch Konflikte und Kriege das Leben von Menschen von einem Augenblick auf den anderen zerstören und ihnen jegliche Hoffnung rauben. Mehr als alles andere müssen wir uns daran erinnern, dass die größten Opfer bewaffneter Konflikte Kinder sind. Sie machen über die Hälfte aller Flüchtlinge aus.
Im vergangenen Jahr jährte sich die Resolution 1612 des UN-Sicherheitsrats zum zehnten Mal. Ihr Hauptzweck ist der Schutz von Kindern in Kriegsgebieten. Aber nicht nur die Kinder, die in Kriegsgebieten leben, brauchen unseren Schutz vor Gewalt und Ausbeutung, sondern auch diejenigen, die vor den Schrecken des Krieges auf der Flucht sind.
In den SDGs führen Kinder die Liste der verwundbarsten Menschen an. Sie leiden unter der Vielzahl an Bedrohungen am meisten. UNICEF-Direktor Anthony Lake sagte dazu: „Jedes Kind hat das Recht auf den Segen einer normalen Kindheit.“[25] Das Leben von Kindern zu schützen, damit sie diesen Segen empfangen können, muss eine wichtige Säule der internationalen Flüchtlingshilfe sein.
Humanitäre Krisen sind erst dann gelöst, wenn die betroffenen Kinder die bitteren Erfahrungen hinter sich gelassen und neue Hoffnung gefunden haben. Für Menschen, die ihr Zuhause verlassen und sich in einem fremden Land ein neues Leben aufbauen müssen, sind lächelnde, hoffnungsvolle Kinder eine Quelle der Inspiration und Kraft.
Mein zweiter Appell an den UN-Gipfel für Humanitäre Hilfe besteht darin, einen Beschluss zu Verabschieden, der UN-Programme zur Unterstützung der Aufnahmeländer im Nahen Osten beinhaltet, und eine entsprechende Resolution auch für andere Regionen in Asien und Afrika anzunehmen.
UN-Statistiken zeigen, dass fast neun von zehn Flüchtlingen Schutz in weniger entwickelten Ländern gesucht haben.[26] Die überwältigende Zahl der Vertriebenen belastet die ohnehin schon schwachen Gastgemeinschaften so sehr, dass die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser und anderen öffentlichen Versorgungsleistungen schwierig wird. Viele dieser Länder können ihre Hilfsmaßnahmen nur mit Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft aufrechterhalten.
In der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention heißt es, dass die Gewährung von Asyl für manche Länder eine „unverhältnismäßig hohe Belastung“ bedeute und dass eine zufriedenstellende Lösung nicht ohne internationale Zusammenarbeit möglich sei. Ich halte es für wichtig, dass die globale Gemeinschaft den Gedanken der internationalen Kooperation verinnerlicht, der sich wie ein roter Faden durch die Konvention zieht, wenn es darum geht, den Bedürfnissen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen gerecht zu werden.
In meinem Friedensvorschlag aus dem letzten Jahr forderte ich die Entwicklung gemeinsamer regionaler Empowerment-Programme, deren Bildungs- und Beschäftigungsprojekte in den Aufnahmeländern sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische einschließen, insbesondere Jugendliche und Frauen.
Derzeit führen die Vereinten Nationen eine Initiative durch, die Flüchtlingshilfe und Unterstützungsmaßnahmen für fünf Aufnahmeländer im Nahen Osten bereitstellt. Dieses neue Hilfskonzept, der Regional Refugee and Resilience Plan (3RP), soll zum einen direkte Hilfe für syrische Flüchtlinge leisten und zum anderen die Lebensbedingungen und die Beschäftigungssituation der Bevölkerung in den Aufnahmeländern verbessern, etwa durch eine Verbesserung der örtlichen sozialen Infrastruktur. Die Initiative soll einen Rahmen für die internationale Zusammenarbeit bilden, die dem Ziel dient, die betroffenen Regionen zu stabilisieren und zu entlasten, wie z.B. die Türkei und den Libanon, die jeweils mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben, oder die Nachbarländer Jordanien, Irak und Ägypten, in denen viele Syrer Schutz suchen. Bis heute hat der 3RP zu einer Verbesserung der Lebensmittel-, Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung und anderer Bereiche geführt. Die Richtlinien und konkreten Zukunftsziele dieser Initiative wurden im Dezember 2015 bekannt gegeben.
Ich appelliere an die Teilnehmer des UN-Weltgipfels für Humanitäre Hilfe, den 3RP zu diskutieren und sich über Best Practices und Schwierigkeiten auszutauschen. Sie mögen sich darüber hinaus zur Zusammenarbeit bei der Förderung dieser Aktivitäten verpflichten, was auch die Zusammenarbeit in Finanzierungsfragen einschließt. Ich appelliere außerdem an die japanische Regierung, ihre Bemühungen um humanitäre Hilfe für Syrien und die Region ebenso weiterzuführen wie ihre Unterstützung für Flüchtlinge. Auch hier muss das Hauptaugenmerk darauf liegen, eine bessere Zukunft für Flüchtlingskinder zu schaffen.
In der Türkei, im Libanon und in anderen Ländern ist es mittlerweile für Kinder möglich, öffentliche Schulen oder provisorische Bildungseinrichtungen zu besuchen, doch über die Hälfte der syrischen Flüchtlingskinder hat noch keinen Zugang zu Bildung. Die Vereinten Nationen haben Pläne erstellt, um die Bildungsmöglichkeiten für Flüchtlingskinder auszuweiten. Die Europäische Union arbeitet mit UNICEF zusammen, um Bildung für vertriebene Kinder in Syrien und den Nachbarländern zu organisieren. Ich hoffe inständig, dass die japanische Regierung auch hier einen maßgeblichen Beitrag leistet.
In Zusammenarbeit mit dem UNHCR haben verschiedene japanische Universitäten ein Hochschulbildungsprogramm für Flüchtlinge ins Leben gerufen, das Flüchtlingen die Möglichkeit gibt, Hochschulabschlüsse zu erwerben. Es sollten noch viel mehr solcher Bildungsinitiativen für die jüngere Generation verfügbar gemacht werden.
Auch ist es wichtig, dass die Zivilgesellschaft aktiv zur Bewältigung humanitärer Notstände wie der Flüchtlingskrise beiträgt. Um einen weiteren Schritt auf unser gemeinsames Ziel zuzugehen, die Schaffung einer Welt, in der die Würde aller Menschen gewahrt wird, wird die SGI ihre Bemühungen im Bereich der Menschenrechtserziehung verdoppeln.
In diesem Jahr jährt sich die Annahme der UN-Erklärung zu Menschenrechtserziehung und -bildung zum fünften Mal. In ihr vereinbarten die UN-Mitgliedstaaten zum ersten Mal internationale Standards für die Menschenrechtserziehung.
Angesichts des weltweiten Anstiegs von rassistischen und fremdenfeindlichen Übergriffen, getrieben von Vorurteilen und Hass gegenüber Flüchtlingen, Vertriebenen und Migranten, sind meiner Meinung nach die folgenden beiden Aspekte der Erklärung besonders wichtig:
- Förderung der Entwicklung des Einzelnen zu einem verantwortungsbewussten Mitglied einer freien, friedlichen, pluralistischen und inklusiven Gesellschaft
- Verhütung von Menschenrechtsverstößen und -missbrauch sowie Bekämpfung jeglicher Form von Diskriminierung, Rassismus, stereotypem Denken, Anstiftung zu Hass und zerstörerischen Vorurteilen und Gesinnungen, die dem zugrunde liegen[27]
Es geht darum, dass es nicht ausreicht, einfach von diskriminierendem Verhalten abzusehen. Viel wichtiger ist es, eine Ethik zu etablieren, die alle Formen von Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Hass und Vorurteilen ausschließt, also eine universelle Menschenrechtskultur zu verbreiten, um wahrhaft inklusive Gesellschaften zu erschaffen.
Ich habe zuvor bereits auf die Ermahnung des ersten Soka-GakkaiPräsidenten Makiguchi verwiesen, dass das Nichttun von Gutem genauso schlimm ist wie das Tun von Bösem. Im Hinblick auf die Schaffung einer universellen Menschenrechtskultur, ein Unterfangen, bei dem das Verhalten und Handeln jedes Einzelnen eine wichtige Rolle spielt, müssen wir uns wieder stärker bewusst machen, welches Gewicht das Nichttun von Gutem hat.
Die Erklärung beschränkt sich nicht auf den Erwerb oder die Vertiefung von Wissen über Menschenrechte, sondern betont ganz konkret auch die Bedeutung der Entwicklung von Verhaltens- und Sichtweisen. Sie definiert darüber hinaus die Menschenrechtserziehung und -ausbildung als „lebenslangen Prozess, der alle Altersgruppen betrifft“.[28] Sie zeigt die Elemente auf, die für die Schaffung einer blühenden Menschenrechtskultur erforderlich sind.
Als zivilgesellschaftliche Organisation unterstützt die SGI diese wichtige UN-Erklärung bereits seit der Entwurfsphase. Seit ihrer Annahme durch die Generalversammlung im Dezember 2011 unterstützen wir ihre Ziele, beispielsweise durch bewusstseinsbildende Ausstellungen oder den gemeinsam produzierte Film A Path to Dignity: The Power of Human Rights Education (dt.: Ein Weg zur Würde: Die Kraft der Menschenrechtserziehung).
2013 schufen Amnesty International, Human Rights Education Associates und die SGI gemeinsam Human Rights Education 2020, (HRE 2020), eine internationale Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen für Menschenrechtserziehung. Um die UN-Deklaration und das UN-Weltprogramm für Menschenrechtsbildung bekannt zu machen und zu fördern, hat HRE 2020 ein Indikatorensystem für Menschenrechtserziehung entwickelt, das als Orientierungshilfe für die Verbesserung der Qualität in der Menschenrechtserziehung in verschiedenen nationalen Kontexten dienen soll.
Zum fünften Jubiläum der UN-Deklaration arbeiten die SGI und andere Organisationen im HRE 2020 zusammen an einer neuen Menschenrechtsausstellung, die die neuen SDGs aus der Sicht der Menschenrechte beleuchten wird. Ich hoffe, diese neue Ausstellung wird wieder neues Engagement in diesem Bereich wecken, das zur Erschaffung einer Welt beiträgt, in der alle Menschen in Würde leben können.
Ökologische Integrität und Katastrophenvorsorge
Als Nächstes möchte ich einige Gedanken zu aktuellen Umweltthemen und zum Thema Katastrophenvorsorge äußern.Mein erstes Thema ist die Reduktion von Treibhausgasemissionen, die für die globale Erwärmung verantwortlich sind. Auf der 21. Weltklimakonferenz (COP21), die vom 30. November bis 11. Dezember 2015 in Paris stattfand, wurde ein neues Klimaschutzabkommen unterzeichnet.
Die Annahme der Pariser Vereinbarung ist insofern bahnbrechend, als 195 Länder sich darin verpflichten, unter einem gemeinsamen Rahmenwerk aktiv zu werden. Sie tun dies angesichts der wachsenden Sorge, dass der Menschheit schwerwiegende Folgen drohen, wenn es uns nicht gelingt, die durchschnittliche globale Erwärmung gemessen an den Werten aus vorindustriellen Zeiten unter 2 °C zu halten. Jede Regierung hat sich ein Ziel gesetzt, und auch wenn diese Ziele nicht rechtsverbindlich sind, haben die Länder sich darauf verständigt, dass sie zu ihrer Erreichung gemeinsame Richtlinien heranziehen wollen.
Da die Bekämpfung der globalen Erwärmung eine gewaltige Herausforderung darstellt, sollte die nahezu einstimmige Teilnahme der Regierungen dieser Welt als eine große Errungenschaft der Pariser Vereinbarung gewürdigt werden. Dies sollte eine Form der Zusammenarbeit fördern, bei der jedes Land einen aktiven Beitrag zum globalen Gemeinwohl leistet.
Asien ist eine der Regionen, die verstärkt extremen Unwettern ausgesetzt ist. Angesichts dessen plädiere ich für eine Zusammenarbeit zwischen China, Japan und Südkorea, die gemeinsam immerhin ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen produzieren.[29] Gemeinsam sollten sie ehrgeizige und bahnbrechende Initiativen auf den Weg bringen.
Im November 2015 fand in Seoul nach einer Pause von dreieinhalb Jahren der sechste trilaterale Gipfel zwischen China, Japan und Korea statt. Nachdem ich in meinen letzten Friedensvorschlägen und auch an anderer Stelle gefordert hatte, die politischen Spannungen außen vor zu lassen und die trilateralen Regierungskonferenzen wieder aufzunehmen, freue ich mich besonders über die Erklärung, dass man die Zusammenarbeit vollständig wieder aufgenommen und sich auf weitere regelmäßige Gipfeltreffen verständigt habe.
Es war die Arbeit auf dem Gebiet der ökologischen Integrität, die den Anstoß zu den trilateralen Konferenzen gab und die stets im Mittelpunkt der trilateralen Zusammenarbeit steht. Das trilaterale Umweltministertreffen (TEMM) brachte zum Ausdruck, dass man Nordostasien als „eine Umweltgemeinschaft“ begreife.[30] Die jährlichen Treffen der Umweltminister wurden beibehalten, um auch in politisch angespannten Zeiten einen kooperativen Beitrag zur Lösung von Umweltproblemen zu leisten.
In der Hoffnung, weitere Kooperationen in Umweltfragen anzustoßen, sprach ich mich im vergangenen Jahr dafür aus, dass die drei Länder eine förmliche Vereinbarung schließen mögen, um die Region zu einem Vorbild für Nachhaltigkeit zu machen. Wenn man über die Zusammenarbeit in Problembereichen wie Luftverschmutzung und Sandsturmprävention hinaus noch weitere gemeinsame Projekte zur Bekämpfung des Klimawandels in der Region erreichen könnte, hätte das eine Signalwirkung auf die Unterzeichner der Pariser Vereinbarung, die ihrerseits motiviert würden, ihre Umweltziele zu erreichen.
Ganz konkret stelle ich mir Initiativen zum Austausch von Wissen und Best Practices in den Bereichen Energieeffizienz, erneuerbare Energien und ressourcenschonende Wirtschaft vor. Solche Synergien zwischen den drei Staaten könnten den Übergang in eine emissionsarme Zukunft beschleunigen.
In diesem Jahr findet der trilaterale Gipfel in Japan statt, begleitet vom trilateralen Jugendgipfel, bei dem junge Vertreter der drei Nationen Möglichkeiten der Zusammenarbeit für Frieden und ökologische Integrität in Nordostasien ausloten. Ich appelliere an die politische Führung Chinas, Japans und Koreas, ein gemeinsames Umweltversprechen zu formulieren, in dessen Mittelpunkt die regionale Zusammenarbeit steht und das Maßnahmen gegen den Klimawandel bis 2030 beinhaltet, dem Zieljahr der Pariser Vereinbarung.
Ich hoffe außerdem, dass der Jugendgipfel konkrete Ergebnisse erarbeitet, zu einer Plattform für den Austausch kreativer Ideen und Best Practices wird und Jugendlichen die Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten ermöglicht.
Als Nächstes möchte ich vorschlagen, dass sich neben solchen Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auch die Städte dieser Welt zusammenschließen, um die Ziele der Pariser Vereinbarung zu erreichen. Obwohl die Städte nur zwei Prozent der Landmasse unserer Erde einnehmen, produzieren sie 75 Prozent der CO₂Emissionen. Über 60% des globalen Energieverbrauchs entfallen auf die Städte.[31] Weil die Umweltauswirkungen der Städte überproportional groß sind, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sich die Situation verändern wird, wenn die Städte es tun.
Einerseits bedeutet die Besiedlungsdichte im urbanen Raum, dass sich viele Probleme an einem Ort bündeln, genau wie die Umweltbelastung. Andererseits kann aber auch gerade diese Dichte die effektive Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen und die Erschließung erneuerbarer Energieressourcen erleichtern.
Durch den sogenannten Compact of Mayors (dt.: Verpflichtung der Bürgermeister), eine Städtepartnerschaft, die 2014 beim UN-Klimagipfel ins Leben gerufen wurde und der heute mehr als 400 Städte weltweit angehören, haben Städte die Möglichkeit, ihre Maßnahmenpläne und Ziele öffentlich kundzutun.
Dass die Städte aktiv werden und die Bemühungen sich auszuzahlen beginnen, vermittelt der örtlichen Bevölkerung wieder einen Sinn für das, was sich erreichen lässt. Wenn die Bürger voller Überzeugung und Stolz sind, inspirieren sie andere, an dem Unternehmen teilzuhaben, und beschleunigen so den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Ich glaube, dass die Städte eine sich allmählich ausbreitende Wirkung entfalten, die das Bestreben eines jeden Landes fördert, seine Ziele aus der Pariser Vereinbarung zu erreichen.
Vor der UN-Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung (Rio+20) 2012, bei der erstmals konkret über die SDGs beraten wurde, brachte ich meine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Ziele für die Jahre nach 2015 so gestaltet sein würden, dass die Menschen sie als persönliche Ziele übernehmen und zu ihrer Umsetzung beitragen können.
Eines der Entwicklungsziele in der Agenda 2030 sind nachhaltige Städte. Wenn Bemühungen im direkten Umfeld der Menschen ihre positive Wirkung auf die globale Umwelt entfalten, zeigt dies den Menschen, dass die Mitwirkung jedes Einzelnen von Bedeutung ist, und das wiederum erfüllt den Einzelnen mit Stolz und dem Gefühl, etwas bewegen zu können. Die UN-Konferenz über Wohnungswesen und nachhaltige Stadtentwicklung (Habitat III) soll im Oktober dieses Jahres im ecuadorianischen Quito stattfinden. Bei dieser Konferenz werden neben Vertretern der jeweiligen nationalen Regierungen auch Vertreter subnationaler Einheiten sprechen und ihre Ansichten und Best Practices weitergeben. Auf diese Weise entsteht auf globaler Ebene Solidarität für das Ziel nachhaltiger Städte.
Die Umweltaktivistin Wangari Maathai bezeichnete die Habitat-IKonferenz 1976 in Vancouver als das Ereignis, das sie zur Begründung der Grüngürtel Bewegung in Kenia bewegte: „Die wunderschöne Landschaft in British Columbia und die Begegnung mit Menschen, die meine zunehmende Sorge um die Umwelt teilten, waren genau das Elixier, das ich brauchte … danach kehrte ich mit neuer Energie und noch entschlossener als zuvor nach Kenia zurück und machte mich daran, meine Ideen umzusetzen.“[32]
Ungeachtet des Landes oder der Gemeinschaft, in der wir leben, teilen wir doch alle den Wunsch, unseren Kindern und Kindeskindern eine intakte Umwelt zu hinterlassen.
Zuvor forderte ich bereits eine Zusammenarbeit zwischen China, Japan und Korea. An dieser Stelle möchte ich mich außerdem dafür aussprechen, dass in Verbindung mit Habitat III ein Forum für die trilaterale Umweltkooperation abgehalten wird, an dem Vertreter der subnationalen Regierungen und NGOs aus dem Umweltbereich teilnehmen.
Als Begleitveranstaltung zur 3. UN-Weltkonferenz zur Reduzierung von Katastrophenrisiken im März des vergangenen Jahres in Sendai sponserte die SGI ein Symposium mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen aus China, Japan und Korea. Chen Feng, der stellvertretende Generalsekretär des Trilateral Cooperation Secretariat, welches das Symposium unterstützte, sagte damals, dass eine Naturkatastrophe in der Region niemals nur eines der drei Länder betreffen werde und dass Zusammenarbeit im Bereich des DRR daher immer Priorität haben müsse.[33] Gleiches gilt für Umweltthemen.
Derzeit haben mehr als 600 Städte in China, Japan und Korea Städtepartnerschaften miteinander geschlossen. Trilaterale Bemühungen können dazu beitragen, ein unschätzbar wertvolles Erbe der Freundschaft aufzubauen. Durch diese Städtepartnerschaften wird ein tieferes Verständnis dafür geschaffen, dass die Städte und Dörfer, in denen wir leben, alle Teil einer großen Umweltgemeinschaft sind.
Das zweite Thema, das ich ansprechen möchte, ist die ökosystembasierte Reduzierung von Katastrophenrisiken (Eco-DRR). Rund 800 Millionen Menschen leiden aktuell unter Hunger und Mangelernährung. Mehr als 30 Prozent der Bodenressourcen unserer Erde, die Grundlage für die globale Lebensmittelproduktion, sind mehr oder weniger geschädigt.[34]
Gesunder Boden spielt im Kohlenstoffkreislauf eine wichtige Rolle, genau wie das Sammeln und Filtern von Wasser, und ist damit eine wichtige Komponente des Ökosystems. Zu lange schon wird ihm allerdings nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die er verdient. Ist einmal eine Verschlechterung eingetreten, erholt sich der Boden nicht so leicht. Es dauert mehrere Hundert Jahre, bis sich ein einziger Zentimeter Boden neu gebildet hat.
Wenngleich sich die globale Nettoentwaldung verlangsamt hat, verlieren wir jährlich noch immer 13 Millionen Hektar Wald, was mit schlimmen Problemen wie dem Verlust der Artenvielfalt einhergeht.[35]
Eines der SDGs formuliert die Bedeutung der Aufhebung und Umkehrung der Bodendegradation und der nachhaltigen Bewirtschaftung unserer Wälder. Dies sind schwierige Herausforderungen sowohl im Hinblick auf die ökologische Integrität der Erde als auch auf die Kohlenstoffabscheidung.
In den vergangenen Jahren haben Umweltschutzbemühungen in der Katastrophenvorsorge zunehmend an Bedeutung gewonnen. Das diesbezügliche Bewusstsein wurde insbesondere durch die Tsunamikatastrophe 2004 im Indischen Ozean erhöht. Studien legten offen, dass Küstendörfer, denen Mangrovenwälder als Schutzschuld dienen, weit weniger Schäden erlitten hatten als andere Küstenbereiche.
Beispiele für Eco-DRR-Projekte sind Regenwassermanagement, die Wiederbepflanzung zur Stabilisierung von Sanddünen, die Nutzung von Sumpfgebieten zur Milderung von Sturmfluten und die Begrünung von Städten.
Besonders erwähnenswert ist die Bedeutung der aktiven und nachhaltigen Einbindung der lokalen Bevölkerung. In den Regionen, die von der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe 2011 in Japan betroffen waren, werden sogar Kinder aktiv in die Begrünungsaktivitäten eingebunden. Sie helfen bei der Anpflanzung junger Bäume mit, um die schützenden Küstenwälder wieder aufzuforsten. Solche Aktionen steigern das Bewusstsein für die Bedeutung lokaler Ökosysteme und laden immer mehr Teilnehmer dazu ein, sich vorzustellen, wie die Bäume, die sie jetzt anpflanzen, das Leben von Menschen in der Zukunft schützen werden.
Wenn die Beteiligten sich in einigen Jahren den Ort ihres Waltens ansehen, werden sie mit einem noch stärkeren Gefühl der Wertschätzung auf die Landschaft blicken. Die Menschen werden die grundlegende, unbeschreibliche Bedeutung der lokalen Ökosysteme für ihr alltägliches Leben erkennen, ebenso wie die unschätzbare Bedeutung ihres eigenen Beitrags zum Katastrophenschutz. Dieses Bewusstsein wird wachsen, genau wie die Bäumchen, die sie gepflanzt haben, und die Wurzeln einer wahrhaft widerstandsfähigen Gemeinschaft bilden. Auf diese Weise nähren die Bemühungen der lokalen Bevölkerung zum Schutz lokaler Ökosysteme zugleich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Vor Kurzem wurde das Weltaktionsprogramm (GAP) zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (ESD) als Nachfolger für die UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (DESD) veröffentlicht. Ganz oben auf der Liste der Programmziele steht die Einbindung junger Menschen, und ich möchte in diesem Zusammenhang Jugendliche und Kinder in aller Welt von ganzem Herzen ermutigen, sich aktiv an Eco-DRR-Projekten wie der Baumpflanzkampagne zu beteiligen.
Das Sendai Rahmenwerk, das im vergangenen März von der 3. UN-Weltkonferenz zur Reduzierung von Katastrophenrisiken angenommen wurde, betont, dass Präventionsmaßnahmen „die Einbindung und Partnerschaft aller Gesellschaftsgruppen erfordern“,[36] und bezeichnet Kinder und Jugendliche als „Akteure des Wandels“,[37] die befähigt werden sollen, an Präventionsprojekten teilzunehmen.
Seit die SGI gemeinsam mit anderen NGOs 2002 die Errichtung der DESD forderte, haben wir die bewusstseinsbildenden Ausstellungen Seeds of Change: The Earth Charter and Human Potential (dt.: Samen des Wandels: Die Erd-Charta und menschliches Potenzial) und Seeds of Hope: Visions of Sustainability, Steps Toward Change (dt.: Samen der Hoffnung: Visionen der Nachhaltigkeit, Schritte zum Wandel) auf der ganzen Welt gezeigt. Im Laufe der Jahre haben viele Schüler von Grund- und weiterführenden Schulen die Ausstellungen besucht und sie zu einem effektiven Werkzeug der Umwelterziehung gemacht.
Einer der Gründe, warum die SGI der Bildung für nachhaltige Entwicklung eine so große Bedeutung zumisst, ist, dass wir Wissen über die untrennbaren Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt vermitteln wollen und dass wir eine wachsende Bewegung von Menschen aller Altersgruppen begründen wollen, die den „Mut zur Anwendung“ entwickelt, den der Soka-Gakkai-Gründer Makiguchi als entscheidendes Bildungsziel postuliert hat.
Abrüstung und Verbot von Atomwaffen
Zuletzt möchte ich noch einige Vorschläge zur Abrüstung und zum Verbot von Atomwaffen unterbreiten.
Der erste bezieht sich auf die Stärkung des institutionellen Rahmenwerks zur Verhinderung einer Verbreitung von Atomwaffen, da diese humanitäre Krisen verschärfen und den weltweiten Terrorismus fördern.
Jedes Jahr werden unerträglich viele Menschen infolge der wachsenden Zahl von Kleinwaffen in Konfliktregionen getötet.
Das Waffenhandelsabkommen, das am 24. Dezember 2014 in Kraft trat, reguliert den Handel mit konventionellen Waffen, von Kleinwaffen (oft auch als „die wahren Massenvernichtungswaffen” bezeichnet) bis hin zu Panzern und Raketen. Es wurde bisher erst von neunundsiebzig Staaten ratifiziert, und bisher konnte noch keine Einigung zu Kernthemen wie der Einführung von Berichtsmechanismen zu internationalen Waffentransfers erzielt werden.
Die erste Konferenz der Unterzeichnerstaaten des Waffenhandelsabkommens fand im August 2015 im mexikanischen Cancún statt. Die Teilnehmer erzielten allerdings keinen Konsens darüber, ob entsprechende Berichte öffentlich gemacht werden und welche Waffen Gegenstand der Berichterstattung sein sollen.
Ich habe beginnend mit meinem Friedensvorschlag von 1999 wiederholt für eine Regulierung des Waffenhandels plädiert, weil ich diese Herausforderung für eine der wichtigsten halte, wenn es darum geht, noch in diesem Jahrhundert Frieden für die ganze Welt zu erreichen.
Die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt, wie dringend wir das Waffenhandelsabkommen in die Tat umsetzen und der Verbreitung konventioneller Waffen ein Ende setzen müssen. Die breite Verfügbarkeit von Waffen trägt dazu bei, dass sich Konflikte festfahren und in die Länge ziehen, und das zwingt unzählige Menschen, ihr Zuhause zu verlassen. Selbst wenn die Kämpfe aufgehört haben, bleibt die Gefahr, dass Konflikte wieder aufflammen, was die Geflohenen davon abhält, in ihre Heimat zurückzukehren.
Gerade Kleinwaffen können leicht transportiert und bedient werden, weshalb oft auch Kinder unfreiwillig als Kämpfer eingesetzt werden. Es gibt schätzungsweise rund 300.000 Kindersoldaten weltweit, die von Verletzungen, Traumata und dem Tod bedroht sind.[38]
Darüber hinaus ist es wichtig, den internationalen Handel mit konventionellen Waffen zu regulieren, um die Verbreitung von Terrorismus zu stoppen. Die globale Antwort auf den Terrorismus gewinnt durch die Synergie zwischen dem Waffenhandelsabkommen und den bestehenden Antiterrorismus-Konventionen deutlich an Nachdruck.
Angesichts all der schrecklichen Auswirkungen der Verbreitung von Kleinwaffen muss die internationale Gemeinschaft dringend vom Waffenhandelsabkommen Gebrauch machen, um den Kreislauf von Hass und Gewalt auf der ganzen Welt zu durchbrechen.
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zählt Finanz- und Waffenströme zu den Faktoren, die Gewalt, Instabilität und Unrecht Tür und Tor öffnen. Die erhebliche Eindämmung dieser Ströme bis 2030 ist eines ihrer wichtigsten Ziele. Ich appelliere an die Staaten, das Waffenhandelsabkommen unverzüglich zu ratifizieren, um ihr Engagement für dieses Ziel zu bekräftigen.
Die vollständige Offenlegung einschließlich der genauen Zahl der Waffentransaktionen würde Transparenz schaffen und dem Abkommen eine größere Effektivität verleihen.
Der zweite Bereich, den ich ansprechen möchte, betrifft das Verbot und die Abschaffung von Atomwaffen.
Im vergangenen Jahr, das den 70. Jahrestag der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki markierte, fand im UN-Hauptquartier in New York die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags statt, bei der jedoch kein Konsens gefunden werden konnte.
Seit das Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz 2010 auf die Unmenschlichkeit der Nutzung von Atomwaffen und die Notwendigkeit der Einhaltung internationaler Menschenrechtskonventionen hingewiesen hatte, ist die Besorgnis über die katastrophalen Folgen eines Einsatzes von Atomwaffen weltweit gestiegen, und es wurden drei internationale Konferenzen zu dem Thema abgehalten.
Umso bedauerlicher ist es, dass die Kluft zwischen den Atomwaffenund den Nicht-Atomwaffenstaaten bei der Überprüfungskonferenz von 2015 nicht überbrückt wurde und dass die Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags in diesem historischen Moment keinen Konsens erzielen konnten.
- Einige bemerkenswerte Entwicklungen machen jedoch Hoffnung:
- Eine wachsende Anzahl von Ländern bekennt sich zur Menschenwürde und engagiert sich für die Lösung des Atomwaffenproblems.
- Im Dezember 2015 nahm die UN-Generalversammlung einige Resolutionen an, die einen Durchbruch in diesem Bereich fordern.
- Es gibt zunehmende Forderungen aus der Zivilgesellschaft nach dem Verbot und der Abschaffung von Atomwaffen. Glaubensbasierte Organisationen und viele Jugendliche bemühen sich hierbei umfangreich.
Wir müssen diese neuen Entwicklungen nutzen, um den Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen vorzuzeichnen, und konkrete Maßnahmen folgen lassen.
Am 6. Januar dieses Jahres führte Nordkorea einen Atomtest durch und verstärkte damit die Sorge der internationalen Gemeinschaft über die Bedrohung durch Atomwaffen.
Würden Atomwaffen in einer feindlichen Auseinandersetzung eingesetzt, ganz gleich wo auf der Welt, wären die Auswirkungen unvorstellbar (Anzahl der Opfer und langfristige Folgen).
Heute existieren mehr als 15.000 Atomwaffen auf der Erde. Ihre Nutzung könnte alle Bemühungen der Menschheit um die Lösung globaler Probleme von einem Augenblick auf den anderen zunichte machen.
Hier gibt die aktuelle Flüchtlingskrise bestenfalls einen kleinen Vorgeschmack: Eine atomare Explosion würde sich über Grenzen hinweg auswirken und eine humanitäre Katastrophe auslösen, die viel gewaltiger ist als die 60 Millionen Flüchtlinge, die derzeit unterwegs sind. Hunderte Millionen Menschen würden auf der Suche nach Sicherheit flüchten. Und ganz gleich, wie sehr sich die Menschen für die Erhaltung eines gesunden Bodens eingesetzt haben, eine Atombombenexplosion würde den Boden in großen Teilen der Erde komplett verseuchen. Angesichts der Tatsache, dass ein Zentimeter Boden 1.000 Jahre braucht, um sich neu zu bilden, wären die Folgen katastrophal.
Neuere Studien warnen vor den Auswirkungen, die selbst ein geografisch begrenzter Atomkrieg auf die globalen Ökosysteme hätte. Die Veränderung des Weltklimas würde die Lebensmittelproduktion erheblich beeinträchtigen und zu „nuklearen Hungersnöten“ führen.
Bis heute haben Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. Diese Arbeit wird in Bereichen wie Katastrophenvorsorge und nachhaltige Städte durch die neuen SDGs weitergeführt. Die Existenz von Atomwaffen droht all diese Anstrengungen zunichte zu machen.
Welchen Sinn hat die Gewährleistung der nationalen Sicherheit durch Atomwaffen, wenn deren Anwendung katastrophale Folgen hätte und Leid und Elend auf der ganzen Welt verbreiten würde? Was genau soll eigentlich durch einen Sicherheitsmechanismus geschützt werden, der, sobald er aktiviert wird, irreparable Schäden verursacht und zahllose Menschenleben kostet? Ist das nicht eher ein System, in dem das eigentliche Ziel, die nationale Sicherheit, also der Schutz von Menschen, längst aufgegeben wurde?
1903, zu Beginn des internationalen Wettrüstens, das bis heute anhält, argumentierte Soka-Gakkai-Gründungspräsident Makiguchi: Wenn eine bestimmte Art des zwischenmenschlichen Wettbewerbs nicht die gewünschten Ziele erfüllt, fördert dies die Veränderung der Form und Natur desselben. „Wenn sich feindliche Auseinandersetzungen lange hinziehen, werden früher oder später maßgebliche Bereiche des öffentlichen Lebens in Mitleidenschaft gezogen. Dies führt unweigerlich zu einem Verlust der nationalen Stärke. Dieser Verlust kann nicht durch das aufgewogen werden, was man durch den Krieg gewinnt.“[39]
Die Grenzen des militärischen Wettbewerbs, die Makiguchi erwähnte, wurden in zwei Weltkriegen und dem Wettrüsten im Kalten Krieg deutlich, das bis heute andauert.
Mit der Erkenntnis der humanitären Auswirkungen und der begrenzten militärischen Wirksamkeit von Atomwaffen ist auch die Erkenntnis gewachsen, dass diese im Grunde untauglich sind. Jetzt, da wir die Grenzen des militärischen Wettbewerbs erreicht haben, deutet sich glücklicherweise ein neuer internationaler Wettbewerb an, der Wettbewerb um das Erreichen humanitärer Ziele.
Ein Beispiel dafür sind die Erfolge des Internationalen Überwachungssystems (International Monitoring System, IMS), das mit dem Atomteststoppvertrag (CTBT) 1996 eingeführt wurde. Der Vertrag muss noch von acht Ländern ratifiziert werden, um in Kraft treten zu können, aber das IMS, das von der CTBTO-Vorbereitungskommission eingeführt wurde, um weltweit Atomexplosionen aufzudecken, wird bereits angewendet.
Seine wichtigste Funktion stellte es erneut unter Beweis, als es die seismischen Wellen und die Strahlung erfasste, die von unlängst durchgeführten Atomtests in Nordkorea ausgingen. Darüber hinaus wurde das IMS-Netzwerk genutzt, um Daten über Naturkatastrophen und die Auswirkungen des Klimawandels zusammenzutragen. Einige Beispiele sind: Übermittlung von Informationen über Seebeben an Tsunami-Frühwarnzentren; Echtzeitüberwachung vulkanischer Eruptionen, damit die Zivilluftfahrtbehörden frühzeitig Warnungen herausgeben können; Nachverfolgung extremer Wetterlagen und des Zusammenbruchs von Schelfeis. Das System wird häufig mit einem gigantischen Erd-Stethoskop verglichen.
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte: „Schon vor seinem Inkrafttreten rettet der CTBT Menschenleben.“[40] In der Tat, der Vertrag und sein Überprüfungsmodell, ursprünglich entwickelt, um das nukleare Wettrüsten und die Verbreitung von Atomwaffen einzudämmen, sind zu wichtigen Instrumenten der Katastrophenprävention geworden und schützen das Leben vieler Menschen.
20 Jahre ist es her, seit der Vertrag angenommen wurde. Ich appelliere an die acht verbleibenden Staaten, den CTBT so schnell wie möglich zu ratifizieren, um seine Effektivität zu erhöhen und sicherzustellen, dass nie wieder Atomtests auf unserer Erde stattfinden.
Wir müssen unsere Bemühungen um nukleare Abrüstung und die gänzliche Abschaffung von Atomwaffen schneller vorantreiben. Zugleich müssen wir weiter Aktivitäten entwickeln, wie sie durch den CTBT entstanden sind, um eine Welt zu erschaffen, in der humanitäre Ziele höchste Priorität haben.
Atomteststoppvertrag (CTBT)
Der Atomteststoppvertrag (CTBT) verbietet jegliche Atomwaffentests. Um die Einhaltung der Bestimmungen zu überprüfen, legt der Vertrag die Errichtung eines globalen Netzwerks von Überwachungseinrichtungen fest und erlaubt bei verdächtigen Ereignissen eine Inspektion vor Ort. Die Vorbereitungskommission für die Organisation des Atomteststoppvertrags (CTBTO) wurde 1996 mit Hauptsitz in Wien gegründet. Es handelt sich um eine Interims-Organisation mit der Aufgabe, in Vorbereitung des Inkrafttretens des Vertrags die Überwachungsmechanismen zu errichten und alle Länder zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Vertrags anzuhalten. 183 Staaten haben den Vertrag unterzeichnet, 164 davon haben ihn bereits ratifiziert, darunter die Atommächte Frankreich, die Russische Föderation und das Vereinigte Königreich. 44 Länder, die ebenfalls Nukleartechnologie besitzen, müssen den Vertrag unterzeichnen und ratifizieren, damit er in Kraft treten kann. Folgende acht Länder haben den Vertrag bisher noch nicht ratifiziert: China, Ägypten, Indien, Iran, Israel, Nordkorea, Pakistan und die USA. Indien, Nordkorea und Pakistan haben den CTBT bisher auch noch nicht unterzeichnet.
Im September 1957 gab mein Mentor Josei Toda inmitten des Kalten Krieges und der Eskalation des Wettrüstens eine Erklärung heraus, in der er eine Abschaffung von Atomwaffen forderte: „Überall auf der Welt sind bereits Bewegungen entstanden, die ein Verbot von Atomwaffentests fordern. Aber ich möchte noch weiter gehen und das Problem an der Wurzel packen. Ich will das Bestialische solcher Waffen aufdecken und ausmerzen.“[41]
Toda drückte jedoch nicht nur seine Sympathie für die ehrlichen Stimmen der Menschen aus aller Welt aus, die ein Verbot von Atomtests forderten, sondern ging noch einen Schritt weiter, indem er betonte, dass eine echte Lösung nur dann herbeigeführt werden könne, wenn wir die Geringschätzung des Lebens überwinden, die einem Konzept der nationalen Sicherheit zugrunde liegt, das das Leid und das Opfer zahlloser Zivilisten in Kauf nimmt.
Was mein Mentor mit dem Bestialischen nuklearer Waffen meinte, ist die verhängnisvolle Denkweise, die die moderne Gesellschaft durchdringt: nämlich die Verfolgung eigener Interessen um jeden Preis, der eigenen Sicherheit und nationalen Interessen auf Kosten der Menschen in anderen Ländern sowie die Durchsetzung der eigenen Ziele, ungeachtet der Wirkung, die das auf die kommenden Generationen hat. Mit seinen Worten im Herzen habe ich mich dafür eingesetzt, das Atomwaffenproblem zu lösen, weil ich glaube, wenn wir diese Herausforderung meistern, kann das die Welt in eine neue und menschlichere Richtung lenken.
Wirksame Maßnahmen um Atomwaffen zu verbieten
Die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten halten weiter an der Idee fest, dass ihnen keine Wahl außer der nuklearen Abschreckung bleibt, solange Atomwaffen andernorts existieren. Sie glauben, dass allein der Besitz nuklearer Waffen ihnen die Kontrolle über die Situation gibt. Die Wahrheit ist allerdings, dass die Gefahr einer versehentlichen Detonation proportional zur Anzahl der Waffen und der Staaten, die sie besitzen, steigt. So gesehen halten Atomwaffen nicht nur das Schicksal der Länder, in denen sie sich befinden, in ihren Klauen, sondern das der gesamten Menschheit.
20 Jahre sind vergangen, seit der Internationale Gerichtshof (ICJ) ein Gutachten über die Gesetzmäßigkeit der Nutzung oder Androhung der Nutzung von Atomwaffen herausgab. In Verweis auf Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags heißt es darin: „Es besteht eine Pflicht, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, welche zu einer umfassenden nuklearen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“[42]
Leider wurden bisher noch keine Verhandlungen in redlicher Absicht zwischen allen Atomwaffenstaaten aufgenommen, sodass eine nukleare Abrüstung in absehbarer Zukunft kaum zu erwarten ist. Dieser Umstand ist nicht akzeptabel.
Um diesen Stillstand zu durchbrechen, wurde 2015 der Humanitarian Pledge (dt.: Humanitäre Selbstverpflichtung) der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag vorgelegt. Mehr als die Hälfte der UN-Mitgliedstaaten (121 Länder) haben sich bisher der Forderung nach einer Kooperation aller relevanter Entscheidungsträger, internationaler Organisationen und der Zivilgesellschaft angeschlossen, um „Kernwaffen zu stigmatisieren, zu verbieten und zu beseitigen“. Alle Staaten werden angehalten, unverzüglich „effektive Maßnahmen zu ermitteln und einzuleiten, um den gesetzlichen Leerraum rund um das Verbot und die Beseitigung von Kernwaffen zu schließen.“[43]
Im vergangenen Herbst nahm die UN-Generalversammlung nach Vorlage verschiedener Resolutionen, die die Einleitung solcher Maßnahmen zum Gegenstand hatten, eine Resolution an, durch die eigens zu diesem Zweck eine offene Arbeitsgruppe (OEWG) eingesetzt wird. In dieser Resolution heißt es, dass die Arbeitsgruppe dieses Jahr „unter Teilnahme und Mitwirkung von Vertretern internationaler Organisationen und der Zivilgesellschaft“ in Genf zusammenkommen werde. Diese Teilnehmer, so heißt es weiter, sollten „ihr Bestes tun, um einen allgemeinen Konsens zu finden.“[44]
Ich hoffe inständig, dass die Arbeitsgruppe die Pattsituation durchbrechen kann, die die Überprüfungskonferenz lähmt, und dass sie der Pflicht aus dem Gutachten des ICJ gerecht werden kann, nämlich „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, welche zu einer umfassenden nuklearen Abrüstung … führen.“
Angesichts der humanitären Folgen, die eine Verwendung von Atomwaffen hätte, appelliere ich an die Arbeitsgruppe, die folgenden drei Punkte bei ihren Beratungen zu berücksichtigen:
- Entfernung von nuklearen Vergeltungsschlägen aus dem Maßnahmenkatalog der höchsten Alarmstufe
- Rückzug aus dem nuklearen Schutzschild
- Beendigung der Modernisierung von Atomwaffen
Die ersten beiden Punkte sollten angesichts der derzeitigen Situation, in der die Nutzlosigkeit von Atomwaffen aufgrund ihrer militärischen Ineffektivität und der humanitären Folgen deutlicher ist denn je, schnellstens umgesetzt werden.
Hier sollten wir uns daran erinnern, dass auch die Nutzung biologischer und chemischer Waffen, die im Verlauf zweier Kriege in einem Klima des intensiven militärischen Wettbewerbs entwickelt wurden, aufgrund ihrer humanitären Auswirkungen für unzulässig erklärt wurde.
Die frühere Hohe Vertreterin der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen Angela Kane beschrieb die Situation mit folgenden, sehr treffenden Worten: „Wie viele Staaten brüsten sich denn heute noch damit, dass sie ‚Biowaffenstaaten‘ oder ,Chemiewaffenstaaten‘ sind? Wer ist denn heute noch der Meinung, dass Beulenpest oder Polio unter irgendwelchen Umständen als Waffen akzeptabel sind, sei es im Rahmen eines Angriffs oder eines Vergeltungsschlags? Wer spricht denn noch von einem BiowaffenSchutzschild?“[45]
Der „Humanitarian Pledge“
Wir wissen heute, dass die unmittelbaren, mittel- und langfristigen Folgen einer Atombombenexplosion weitaus verheerender wären, als früher angenommen wurde. Die Anwendung von Atomwaffen hätte regionale und globale Auswirkungen, würde unter Umständen sogar die gesamte menschliche Existenz bedrohen. Alle Staaten tragen also gemeinsam Verantwortung für die Verhütung einer solchen Anwendung. Und doch sind diese Massenvernichtungswaffen nach internationalem Recht nicht verboten. Der „Humanitarian Pledge“ (dt: Humanitäre Selbstverpflichtung) soll diesen nicht hinnehmbaren gesetzlichen Leerraum füllen. Der „Humanitarian Pledge“ wurde am 9. Dezember 2014 bei der Abschlussveranstaltung der Wiener Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen unter dem Titel „Austrian Pledge“ (dt: Österreichische Selbstverpflichtung) vorgestellt. Dieses Dokument, das bisher von 121 Staaten unterzeichnet wurde, soll die Aufnahme von Verhandlungen über einen Vertrag beschleunigen, der Atomwaffen vollständig verbietet. Lesen Sie den gesamten Text hier: www.icanw.org/pledge/
Höchst bemerkenswert ist auch, dass das Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag 2010 die Atomwaffenstaaten auffordert, „die Rolle und Bedeutung von Kernwaffen in allen militärischen und Sicherheitskonzepten, Doktrinen und Richtlinien zu verringern.“[46]
Daher ist es lobenswert, dass eine Gruppe von Staaten, einschließlich Brasilien, der Generalversammlung im Oktober 2015 einen Resolutionsentwurf vorlegte, der alle Staaten, die Mitglieder regionaler Allianzen sind, zu denen auch Atomwaffenstaaten gehören, dazu auffordert, „weiter auf eine Verringerung der Bedeutung von Kernwaffen hinzuarbeiten“.[47]
Eine weitere Resolution, die in der gleichen Sitzung vorgelegt wurde und bei der Japan federführend war, appelliert an die betroffenen Staaten, „ihre militärischen und Sicherheitskonzepte, Doktrinen und Richtlinien weiter zu überprüfen und die Bedeutung von Kernwaffen in diesem Zusammenhang weiter zu senken.“[48] Ich bin der Meinung, Japan sollte bei diesem Unterfangen die Führung übernehmen und selbst damit beginnen, seine Sicherheitsmechanismen zu überprüfen, die sich derzeit stark am US-Atomwaffenschutzschild orientieren.
Im Vorfeld des G7-Gipfels im Mai dieses Jahres wird im April das Gipfeltreffen der G7-Außenminister in Hiroshima stattfinden. Ich hoffe, dass die Unmenschlichkeit von Atomwaffen dabei auf der Agenda stehen wird und ebenso aktuelle Probleme wie das nordkoreanische Atomprogramm und die Verringerung der Rolle von Atomwaffen als Schritt zur Entnuklearisierung Nordostasiens.
Der dritte Punkt, die Modernisierung von Atomwaffen, ist etwas, wovor ich bereits im Friedensvorschlag des vergangenen Jahres gewarnt habe. Wenn weiter mehr als 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr für die Unterhaltung dieser Waffen ausgegeben werden, riskieren wir, dass sich die grotesken Ungerechtigkeiten in unserer Welt langfristig verfestigen.
In einer Resolution, die der UN-Generalversammlung im Oktober 2015 von Südafrika und anderen Staaten vorgeschlagen wurde, heißt es: „In einer Welt, in der nicht einmal menschliche Grundbedürfnisse erfüllt sind, würde man die riesigen Ressourcen, die in die Modernisierung von Atomwaffenarsenalen fließen, besser in die Erfüllung der nachhaltigen Entwicklungsziele investieren.“[49]
Wenn die Modernisierung von Atomwaffen im derzeitigen Tempo fortschreitet, werden mindestens sechs weitere Generationen mit der Bedrohung durch Atomwaffen leben müssen. Selbst wenn die Waffen nicht eingesetzt werden, so sind sie doch ein erhebliches Hindernis für die Umsetzung der SDGs und die Beseitigung der Ungleichheit, die die globale Gesellschaft spaltet.
Der südafrikanische Vertreter sagte: „Nukleare Abrüstung ist nicht nur eine international geltende gesetzliche Pflicht, sondern auch ein moralischer und ethischer Imperativ.“[50] Ich denke, diese Worte drücken genau das aus, was die Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki empfinden, die unsägliches Leid durchleben mussten, ebenso wie andere Hibakusha in anderen Teilen der Welt, die durch Waffenentwicklung und Tests beeinträchtigt werden. Zuspruch findet diese Sicht der Dinge auch bei den Regierungen, die den Humanitarian Pledge unterzeichnet haben, und bei den friedliebenden Menschen auf der ganzen Welt.
Die Generation des Wandels
Bei der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag 2015 legte die SGI zusammen mit Vertretern von christlichen, jüdischen, muslimischen und anderen Glaubensgemeinschaften ein gemeinsames Statement mit dem Titel „Glaubensgemeinschaften in Sorge über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen“ vor. Darin heißt es unter anderem: „Atomwaffen sind unvereinbar mit den Werten unserer jeweiligen Glaubenstraditionen, darunter das Recht der Menschen auf ein Leben in Sicherheit und Würde, die Dominanz des Gewissens und der Gerechtigkeit, die Pflicht zum Schutz der Schwächeren und die Verantwortung, den nachfolgenden Generationen einen intakten Planeten zu hinterlassen.
Überlebende der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, ihre Kinder und Enkelkinder werden im Japanischen „hibakusha“ genannt, was wörtlich übersetzt bedeutet „von Explosionen betroffene Menschen“. Nach dem japanischen Gesetz über Hilfen für Überlebende der Atombombenangriffe werden bestimmte Personengruppen als Hibakusha anerkannt: Menschen, die der Atomexplosion unmittelbar ausgesetzt waren, Menschen, die sich in den zwei Wochen nach der Detonation innerhalb eines Zwei-Kilometer-Radius rund um das Hypozentrum aufgehalten haben, Menschen, die dem radioaktiven Niederschlag allgemein ausgesetzt waren, und Ungeborene im Mutterleib. Der Begriff Hibakusha wird seit einiger Zeit auch verwendet, um Menschen überall auf der Welt zu bezeichnen, die mit radioaktiver Strahlung in Berührung gekommen sind. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint man damit jede Person, die Strahlung aus einer nuklearen Produktionskette ausgesetzt war, also bei der Produktion von Atomwaffen, bei Atomwaffentests oder der Erzeugung von Kernenergie.
Wir fordern die schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Staaten über ein neues Rechtsinstrument, das Atomwaffen verbietet. Dies soll im Rahmen eines Forums geschehen, das allen Staaten offensteht und von keinem Staat blockiert werden kann.“[51]
Zuvor erwähnte ich bereits Makiguchis Überlegungen zur Entstehung des Wettbewerbs. Ich meine, die Zeit ist gekommen, den Fehler in der Logik des nuklearen (und anderweitigen) Wettrüstens anzuerkennen, sowohl aus militärischer als auch aus humanitärer Sicht.
Ich hoffe, dass die Arbeitsgruppe bei ihrem diesjährigen Treffen in Genf eine konstruktive Debatte darüber führen wird, wie man in einem gemeinsamen Projekt aller UN-Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen „für die Erreichung und dauerhafte Aufrechterhaltung einer atomwaffenfreien Welt“ ermitteln kann.[52] Ich hoffe, die Aufgaben der Arbeitsgruppe werden spätestens 2018 bei der Hohen UN-Konferenz über nukleare Abrüstung gelöst und dass Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen angestoßen werden.
Im kommenden Jahr jährt sich die Erklärung des zweiten SokaGakkai-Präsidenten Toda, in der er die Abschaffung von Atomwaffen forderte, zum 60. Mal. Aus dieser Erklärung zieht die SGI die Inspiration für ihre kontinuierlichen Bemühungen um öffentliche Unterstützung für das Konzept einer Welt ohne Atomwaffen. Wir sind entschlossen, das Verbot und die Abschaffung von Atomwaffen zu erreichen – als eine Initiative der Völker dieser Erde, sozusagen als eine Art völkerrechtliche Vereinigung, die durch die Zusammenarbeit vieler staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure möglich wird.
Der Internationale Jugendgipfel über die Abschaffung von Atomwaffen im vergangenen August in Hiroshima veröffentlichte folgendes Versprechen: „Atomwaffen sind ein Symbol einer längst vergangenen Zeit, ein Symbol, das unsere heutige Realität unmittelbar bedroht und in der Zukunft, die wir erschaffen möchten, keinen Platz hat.“[53]
Der Gipfel, organisiert von sechs verschiedenen Gruppen, darunter die SGI, wurde von jungen Menschen aus 23 Ländern und dem Sondergesandten des Generalsekretärs für Jugend, Ahmad Alhendawi, besucht. Die Teilnehmer gelobten, die Geschichten der Hibakusha mit der Welt und den nachfolgenden Generationen zu teilen, unter Gleichaltrigen Bewusstsein zu schaffen und sich mit weiteren Maßnahmen zu engagieren, um die gemeinsame Zukunft der Menschheit zu schützen.
Im Oktober wurden die Arbeit und das Ergebnis des Jugendgipfels in New York bei einer Begleitveranstaltung des General Assembly First Committee präsentiert, das sich mit Abrüstung und internationaler Sicherheit befasst. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Rolle der jüngeren Generation sowohl innerhalb der UN als auch in den jeweiligen Gemeinschaften sowie ihr Engagement für die Erschaffung einer atomwaffenfreien Welt.
Durch die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Personen und Gruppen wollen wir dafür sorgen, dass auch zukünftig Gipfeltreffen zum Thema Abschaffung von Atomwaffen stattfinden. Um noch einmal aus dem „Versprechen der Jugend“ zu zitieren: „Die Abschaffung von Atomwaffen ist unsere Verantwortung; dies ist unser Recht, und wir werden nicht länger zusehen, wie die Chancen zur Beseitigung dieser Waffen leichtfertig vertan werden. Wir, die Jugend, versprechen in all unserer Diversität und tiefen Solidarität, dieses Ziel umzusetzen. Wir sind die Generation des Wandels.“[54]
Wenn dieses Versprechen, das Jugendliche aus aller Welt in Hiroshima gegeben haben, die Herzen der Menschen weltweit erreicht, gibt es keine unüberwindbaren Hindernisse mehr, kein Ziel, das nicht erreicht werden kann.
Mehr als alles andere sind es das Engagement und das Versprechen der jüngeren Generation, was die Welt von einer bedrohlichen Welt, in der Atomwaffen das Leben und die Würde von Menschen bedrohen, in eine neue Welt verwandelt, in der alle Menschen in Frieden leben und ihre angeborene Würde erleben können.
Die SGI verspricht eindringlich, weiterhin die Abschaffung von Atomwaffen und die Erreichung der SDGs zu unterstützen sowie Solidarität mit der Jugend, der Generation des Wandels, zu üben. In diesem Sinne werden wir unsere Bemühungen um eine Welt, eine globale Gesellschaft, in der kein Mensch auf der Strecke bleibt, fortsetzen.
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Zolli, Andrew, und Ann Marie Healy. 2012. Resilience. London: Headline Publishing Group
[1] Siehe UNHCR, „UNHCR Mid-Year Trends 2015“, 3.
[2] Siehe IFRC, „New IFRC Report“.
[3] UNHCR, „Refugees Endure Worsening Conditions“.
[4] Giannelli, „Migrants Between Scylla and Charybdis“.
[5] (übers. aus) Shioda, Ganji o tsuide, 201.
[6] Buddharakkhita, übers., The Dhammapada, 10:130:2.
[7] Jaspers, Socrates, Buddha, Confucius, Jesus, 24.
[9] Watson, Übers., The Lotus Sutra, 82.
[11] (übers. aus) Nichiren, Nichiren Daishonin gosho zenshu, 1262.
[12] (übers. aus) Makiguchi, Kachiron, 186.
[13] Nussbaum, Not for Profit, 79–80.
[14] (übers. aus) Makiguchi, Makiguchi Tsunesaburo zenshu, 5:131.
[17] Zolli und Healy, Resilience, 21.
[19] UN News Centre, „Interview with Amina J. Mohammed“.
[20] Siehe Maathai, Unbowed, 122.
[21] UNHCR, „World Refugee Day“.
[22] Ikeda und Nanda, Our World to Make, 152.
[23] (übers. aus) Toda, Toda Josei zenshu, 1:20.
[24] Maritain, Man and the State, 80.
[25] UNICEF Press Centre, „50 Years after UNICEF“.
[26] Siehe UNHCR, „Worldwide Displacement“.
[27] UN-Generalversammlung, „United Nations Declaration on Human Rights Education and Training“, 3–4.
[29] Siehe IEA, „Key Trends in CO₂ Emissions“ vi.
[30] TEMM, „Footprints of TEMM“, 2.
[31] Siehe UN, „Sustainable Development Goals Fact Sheet“, 6.
[33] Siehe SGI, „Panel at Sendai“.
[34] Siehe FAO, „Nothing Dirty Here“.
[35] Siehe UN, „Sustainable Development Goals Fact Sheet“, 8.
[36] UNISDR, „Sendai Framework“, 13.
[38] Siehe UN SG Envoy on Youth, „4 out of 10 Child Soldiers Are Girls“.
[39] (übers. aus) Makiguchi, Makiguchi Tsunesaburo zenshu, 2:395.
[40] Ban, „Video Message to the Conference“.
[41] (übers. aus) Toda, Toda Josei zenshu, 4:565.
[42] ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, 267.
[43] ICAN, „Humanitarian Pledge“.
[44] UN-Generalversammlung, „Taking forward Multilateral Nuclear Disarmament Negotiations“, 3.
[45] Kane, „Disarmament: The Balance Sheet“, 2.
[46] UN-Generalversammlung, „2010 Review Conference“, 21.
[47] UN-Generalversammlung, „Towards a Nuclear-Weapon-Free World“, 5.
[48] UN-Generalversammlung, „United Action Towards the Total Elimination of Nuclear Weapons“, 3.
[49] UN-Generalversammlung, „Ethical Imperatives for a Nuclear-Weapon-Free World“, 3.
[50] UN-Generalversammlung, „Statement by South Africa“, 2.
[51] UN-Generalversammlung, „2015 NPT NGO Presentation: Faith Communities Concerned about the Humanitarian Consequences of Nuclear Weapons“.
[52] UN-Generalversammlung, „Taking forward Multilateral Nuclear Disarmament Negotiations“, 1.
[53] International Youth Summit for Nuclear Abolition, „Generation of Change“.