Der goldene Westen
Ein Beitrag der FORUM-Redaktion veröffentlicht in der Ausgabe November/Dezember 2022 (251), „Der Zustand unseres Lebens“
Wir saßen zusammen im Garten meines Vaters, als meine Frau plötzlich sagte: „So habe ich mir den goldenen Westen immer vorgestellt.“ Die Eltern meiner Frau flohen kurz vor dem Mauerfall von Polen nach Deutschland, weil sie trotz zweier Gehälter und etlicher Zusatzjobs nicht genug zum Leben hatten. Sie kennen den Hunger nach lebensnotwendigen Dingen. Ich bin ein Kind des „goldenen Westens“. Ich kenne diesen Hunger nicht. Ich kenne einen anderen Hunger. Ich kenne den Hunger nach Vergnügen, und ich glaube meiner Mutter, wenn sie sagt, dass dieser Hunger in meiner Jugend unersättlich gewesen sei.
Natürlich war ich auch für Frieden und gegen Umweltzerstörung und den Mainstream. Aber worauf ich Anfang der Neunziger Jahre hauptsächlich meine Energie richtete, war das Stillen meines Hungers nach dem, was der Buddhismus „vorübergehende Freude“ nennt. Damit war ich natürlich nicht allein. Der Trend zur Entfesselung der Begierden durchzog die ganze Gesellschaft. Ich erinnere mich an endlose Werbeblocks im Privatfernsehen, deren Jingles ich heute, 30 Jahre später, immer noch auswendig kann.
Von außen betrachtet war der goldene Westen überreich beladen. Aber wenn man mitten drin saß, hatte man nie genug. Irgendetwas fehlte immer bis zur vermeintlichen Erfüllung. Eine Reise in die Ferne, ein extravagantes Erlebnis, ein neues Dies, ein neues Das. Egal wieviel ich hatte, ich fühlte mich immer nur halb gesättigt. Bereits zu träge für echte Bemühung, aber zu unzufrieden, um wirklich glücklich zu sein.
Die Hungergeister oder auch der Hunger sind einer der zehn Lebenszustände, denen dieses Heft gewidmet ist und die der Buddhismus Nichiren Daishonins benutzt, um die grundlegenden Qualitäten zu beschreiben, die unser Leben an den Tag legen kann. Die zehn Zustände sind: Hölle, Hungergeister, Tiere, Asuras, Menschen, Himmelswesen, Hörer, Zur-Ursache-Erwachten, Bodhisattvas und Buddhas.
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