Die Welt des Bodhisattva
Im Mahayana-Buddhismus verkörpert der Bodhisattva das ideale Menschenbild. Ein Bodhisattva sucht den Weg zur Erleuchtung und bemüht sich gleichzeitig darum, auch möglichst vielen anderen Mitmenschen zur Erleuchtung zu verhelfen. Das Mitgefühl, die einfühlsame Anteilnahme am Leiden anderer, ist also das „Markenzeichen“ eines Bodhisattva.
So heißt es in einem Brief Nichiren Daishonins: „(…) die Welt der Bodhisattvas, jene also, die unter den gewöhnlichen Sterblichen der Sechs Pfade der Existenz bleiben, die wenig an ihr eigenes Leben denken, doch viel an das Leben anderer und ständig danach streben, Böses auf sich zu nehmen und Gutes an andere Wesen zu verteilen.“ (WND-2, 201)
Im Westen verwechseln wir das mitfühlende Handeln des Bodhisattvas leicht mit „Aufopferung“ oder einem „Helfersyndrom“. Die Haltung des Bodhisattvas ist jedoch eine völlig andere. Er verschenkt seine Lebenskraft nicht an andere, um selbst kraftlos zurückzubleiben. Stattdessen schöpft er Energie aus der Verbundenheit mit allen anderen Lebewesen und der Verbindung mit der tiefsten Lebenskraft des Universums, dem Lebensgesetz von Nam-Myoho-Renge-Kyo. So erläutert SGI-Präsident Daisaku Ikeda: „Wenn wir uns um andere kümmern, uns um sie bemühen und ihnen dabei helfen, ihre Lebenskraft zu manifestieren, dann vergrößert sich auch unsere eigene Lebenskraft. Wenn wir Menschen dabei unterstützen, ihren Lebenszustand zu erhöhen, erhöht sich auch unser eigener Lebenszustand. Das ist das Wunderbare am Bodhisattvaweg.“ (Weisheit 1, 134)
Handlungen zum Wohle anderer können nicht von den Handlungen zum eigenen Wohl getrennt werden. Es gibt eine bekannte buddhistische Geschichte, die dies verdeutlicht: Jemand geht in die Hölle und sieht, dass alle dort leiden, weil sie nicht essen können, obwohl alle ein reiches Mahl vor sich haben. Denn ihre Essstäbchen sind länger als ihre Arme und sie können sich das Essen nicht in den Mund stecken. Dann geht diese Person in das Buddhaland. Auch dort sind die Essstäbchen länger als die Arme der Menschen, aber alle sind zufrieden. Wieso? Weil sie sich abwechselnd gegenseitig füttern.
Dieses Beispiel will zeigen, dass es in dieser Welt nicht möglich ist, isoliert und alleine zu überleben. Aus der Sicht des Buddhismus wird ein ichbezogener Mensch letztlich nicht glücklich sein können. „Mir scheint, dass es die menschlichen Verbindungen sind – der Wunsch, für andere zu leben – der einem zu schwierigen Zeiten die Kraft gibt, weiterzumachen. So lange man sich in seinen Egoismus vergräbt, gibt es kein Glück. Erst wenn wir ausbrechen und für andere handeln, quillt unser Leben vor Vitalität über.“, so drückt es Daisaku Ikeda aus und sagt auch „Kosen-rufu ist ein Kampf, die Grundströmung der Gesellschaft von ichbezogen zu altruistisch, von egoistisch zu mitfühlend zu verändern.“ (DLS 4, 150, 147)
Im Nichiren-Buddhismus, der in der Soka Gakkai gelehrt wird, umfasst die Bodhisattva-Ausübung zwei sich gegenseitig verstärkende Aspekte: die Ausübung für sich und die Ausübung für das Glück anderer. Erstere beinhaltet die Rezitation zentraler Textpassagen des Lotos-Sutra und das Chanten von Nam-Myoho-Renge-Kyo. Das Ziel dieser Ausübung besteht darin, das eigene Innenleben zu revolutionieren und so die Qualitäten des Buddha zu entfalten, also Mut, Weisheit und Mitgefühl sowie reichlich Lebenskraft. Der zweite Aspekt besteht in der Weitergabe der Lehre.
Viele Menschen beginnen mit der Ausübung des Buddhismus, weil sie sich nach persönlichem Glück sehnen oder ein vermeintlich unlösbares Problem überwinden wollen. Sobald sich ihr Lebenszustand weitet, beginnen sie sich dafür zu interessieren, ob die Menschen in ihrer Umgebung auch glücklich sind. Weil sie ihre Verbundenheit mit allen Lebewesen spüren, handeln sie mitfühlend und teilen die tiefen Einsichten des Buddhismus mit ihnen. Damit geben sie ihnen die Möglichkeit, ebenso aus reichen inneren Quellen in ihrem Leben zu schöpfen. Ausübung für andere heißt demnach, anderen Menschen den Buddhismus im Vertrauen darauf weiterzugeben, ihnen damit den Schlüssel für ein glückliches Leben zu überreichen.
aus: Impulse für die tägliche Ausübung. Buddhismus heute
Zum Weiterlesen und Vertiefen:
Die Weisheit zur Erschaffung von Glück und Frieden; Teil 1, Kap. 5: „Glück für uns selbst und andere“, S. 130 – 149
Dialoge über das Lotos-Sutra; Bd. 4, S. 144 – 153