SGiD 15.08.2025

Publikation: Wähle das Leben! 50 Jahre seit der Erstveröffentlichung des Dialogs zwischen Arnold J. Toynbee und Daisaku Ikeda

Im Mai dieses Jahres ist der Dialog zwischen dem Christ und Historiker Arnold J. Toynbee und Daisaku Ikeda neu beim Verlag Herder erschienen. Er erschien vor genau 50 Jahren auf Japanisch in Buchform. Ihre Gespräche umfassen ein breites Themenspektrum, die später für die Veröffentlichung editiert wurden.

In ihren tiefgründigen Gesprächen verbinden sich westliche Geschichtsanalyse und östliche Weisheitslehre zu einer einzigartigen Perspektive auf globale Herausforderungen: Kriege und weltweite Konflikte, immer knapper werden Ressourcen und dringend notwendiger Umweltschutz sind ebenso Thema wie die Gemeinsamkeiten ihrer Religionen und ihrer Ansichten zur Gesellschaft.

Aus den mehr als 80 Themenbereichen möchten wir einige aufgreifen und einen kurzen Einblick geben.

So wird in den folgenden Absätzen der Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Fortschritt, dem ethischen Niveau einer Gesellschaft und Karma erörtert:  

Toynbee: Der wissenschaftliche Fortschritt, auf die Technik angewandt, erzeugt Macht für Menschen über ihre Mitmenschen und die nichtmenschliche Natur. Die Macht ist ethisch neutral; sie kann zum Guten wie zum Bösen gebraucht werden und verstärkt nur materiell die Wirkung guter oder schlechter Handlungen. Die für üble Zwecke eingesetzte Atomkraft kann in einem Augenblick Millionen Menschen umbringen, während die menschliche Muskelkraft, auch mit Metall bewaffnet, nur einen auf einmal in einem Nahkampf töten konnte. Umgekehrt kann die dem medizinischen Fachpersonal durch den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft verliehene Macht jetzt Millionen Menschenleben retten, die früher Bakterien oder Viren zum Opfer gefallen wären. Andererseits kann die gleiche Wissenschaft, wenn sie sich der bakteriologischen Kriegführung zuwendet, ebenso viele Menschen töten wie die Atombombe. So hängt die Wirkung der von der wissenschaftlichen Technik geschaffenen Macht auf das menschliche Leben von dem moralischen Stand derjenigen ab, die über diese Macht verfügen. 
Der Fortschritt der modernen Technik ist das kumulative Ergebnis von Zusammenarbeit. Im Gegensatz dazu ist das Karma, das das ethische Niveau bestimmt, ein laufendes Konto im geistigen und moralischen Leben eines Einzelwesens – ob wir nun glauben, dass der Mensch in dieser Erscheinungswelt eine Reihe von Leben oder nur ein einziges Leben führt. Auf einem Karmakonto sind die Soll- oder Habeneintragungen nicht kumulativ, die Bilanz ändert sich mit jeder neuen Eintragung.
Das ethische Niveau einer Gemeinschaft hängt in jedem Augenblick von dem Stand des Karmakontos jedes einzelnen Mitgliedes der Gemeinschaft ab und von seinem ethischen – positiven oder negativen – Einfluss auf seine Mitbürgerinnen und Mitbürger. So ist das ethische Niveau einer Gemeinschaft – anders als ihr wissenschaftlicher und technischer Stand – fluktuierend und unsicher. Nicht der wissenschaftliche und technische Fortschritt, sondern das Karma ist im menschlichen Leben der Faktor, der Wohlergehen und Glück oder Elend und Sorge hervorbringt.

Ikeda: Sie haben einen schwierigen Punkt berührt, der mich ständig beschäftigt. Ich bin überzeugt, es ist die Aufgabe des einzelnen Menschen, sein Schicksal aus einem Zustand der Anhäufung des Elends in den des Glückes zu führen. Diese Veränderung meine ich, wenn ich von der menschlichen Revolution spreche.

Toynbee: Das wichtigste Ziel für den Menschen sowohl um seiner selbst als um der Gesellschaft willen ist die Verbesserung seines Karma. Der einzige Weg dazu besteht darin, seine Selbstbeherrschung zu verstärken; und der Kampf, sein Ich zu beherrschen, fordert den persönlichen Einsatz des Einzelnen. Fortschritt und Rückschritt in diesem Prozess schwanken. Im hinduistischen und im buddhistischen Glauben kann dieses Auf und Ab eine Reihe von aufeinanderfolgenden Leben andauern. Aber es gibt im Moralischen keine Kumulation wie bei den Fortschritten von Wissenschaft und Technik.

Ikeda: Der Kampf mit dem Schicksal verlangt unaufhörliche Bemühung. Wenn man in einem Augenblick das Gefühl hat, ganz von erhabenen geistigen Motiven erfüllt zu sein, so bedeutet das nicht, dass man nicht schon im nächsten Augenblick von der hässlichsten selbstsüchtigen Ehrsucht getrieben werden kann. Zahllose Gelegenheiten, der Habgier und anderen niedrigen Begehren nachzugeben, sind ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens. Daher ist es von größter Wichtigkeit, den Kampf mit ihnen nicht aufzugeben, sondern immer danach zu streben, unser schlechteres Ich zu bezwingen und dem Besten, dessen wir fähig sind, gemäß zu leben. Die unablässige Bemühung, auf eine höhere geistige Stufe zu gelangen, ist der einzige wahre Fortschritt für den Menschen. Aber auch hier droht die Gefahr, sich zu verstricken, sich mit dem Fortschritt um seiner selbst willen zufriedenzugeben und jeden wirklichen Fortschritt zunichtezumachen. (S. 457 ff.)

Toynbee: Das ethische Niveau des Menschen war immer niedrig, und es hat sich nicht gehoben. Das Niveau seiner technischen Leistungen ist steil angestiegen und in unserem Jahrhundert schneller und höher als in irgendeinem uns bekannten früheren Zeitalter. Infolgedessen ist die Diskrepanz zwischen unserer Technik und unserer Moral heute größer als je zuvor; und das ist nicht nur einfach erniedrigend, es ist lebensgefährlich.
Unsere derzeitige Lage sollte uns demütig machen, und dieses Gefühl der Demut sollte uns anspornen, jene Würde zu erlangen, ohne die unser Leben wertlos und ohne wahres Glück ist. Die menschliche Würde wird nicht in der Technik erreicht, worin die Menschen so geschickt sind, sondern nur auf dem Gebiet der Moral, und moralische Leistungen werden danach gemessen, wieweit unsere Handlungen von Mitgefühl und Liebe, nicht von Habgier und Aggression geleitet werden. (S. 478 f.)

Eine Leseprobe findet ihr hier: 
https://media.herder.de/leseprobe/978-3-451-03582-1/index.html

Es ist auch als Ebook erhältlich: 
https://www.herder.de/religion-spiritualitaet/shop/p3/87984-waehle-das-leben-ebook-epub/

Bestellen könnt ihr das Buch auch hier: 
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